Die Zahl
Mitternacht in Wien losfahren, um rechtzeitig anzukommen.
Natürlich war er, wie immer, viel zu spät dran. Bevor er losfahren konnte, musste er außerdem noch die Scheiben seines Autos freikratzen, und Benzin war auch zu wenig im Tank. Seine Reise schien unter keinem guten Stern zu stehen. Lorentz war schlecht gelaunt, fürchterlich müde, er fror, und ein schlechtes Gewissen hatte er mittlerweile auch. Joe war tot. Ungern musste er seiner Mutter recht geben – es sollte ihn eigentlich treffen.
Lorentz war früher ein sehr zarter, schüchterner Junge gewesen. Mit den wilden Landkindern, die Räuber und Gendarm spielten, Mutproben abhielten und dann beim Dorffest Bier tranken bis zum Umfallen, konnte er sich nie wirklich anfreunden. Er wäre stets ein Außenseiter geblieben, wäre da nicht dieser Nachbarsjunge, Josef Anders, gewesen, der seit dem Kindergarten sein bester Freund war.
Im Laufe der Jahre wurde Lorentz mehr und mehr klar, dass er nicht für das Landleben geschaffen war. Er wollte etwas erleben und aus tausend Möglichkeiten auswählen können. Also beschlossen Joe und er, gleich nach dem Schulabschluss gemeinsam nach Wien zu ziehen, um dort das wilde Studentenleben zu genießen.
Der Plan war perfekt, aber kurz vor dem Abitur starb Josefs Vater, und für Lorentz brach eine Welt zusammen, als Joe ihm eröffnete, dass er den familieneigenen Autohandel übernehmen wollte und deshalb nicht Architektur studieren und mit in die Stadt ziehen würde.
In Lorentz’ Augen stellte das den ultimativen Verrat dar. Ein Wort gab das andere, und nach einem heftigen Streit schwor er sich, nie wieder ein Wort mit Joe, diesem Feigling, zu wechseln, und ging allein nach Wien.
Während er langsam auf der vereisten Straße dahinfuhr, kroch Lorentz allmählich die Kälte in die Knochen. Es war typisch, dass die Heizung ausgerechnet heute nicht funktionierte. Er begann sich nun doch wieder darüber zu ärgern, dass er sich von seiner Mutter hatte überreden lassen, nach Landau zu kommen. Und schließlich dachte Lorentz wieder an Iris, seine Exfreundin, die jetzt Witwe war. Denn das war ein weiterer wunder Punkt, den es zwischen ihm und Joe gegeben hatte.
Er verzog das Gesicht, als er sich daran erinnerte, dass er tatsächlich einmal in diese blöde Kuh verliebt gewesen war. Iris, diese eitle Zicke, die schon in der Schulzeit nicht mehr wusste, was sie mit sich selbst anfangen sollte. Sie hatte keinerlei Ziele und interessierte sich einfach für nichts, außer für sich selbst. Aerobic, Gymnastik und so ein Zeug waren ihre einzigen Hobbys. Tussisport. Hier und da hatte sie auch mal ein Buch gelesen, aber nicht aus Interesse, sondern um nachher damit anzugeben. Die Leute sollten ja nicht denken, sie sei dumm, was sie in Lorentz’ Augen aber war. Ihm konnte sie nichts vormachen.
Sie waren im Streit auseinandergegangen. Wie lange war das wohl schon her? Lorentz rechnete. Er war jetzt 33 Jahre alt, und sie hatten sich getrennt, als er 18 war. ›Oh, mein Gott‹, dachte er, ›das ist ja schon 15 Jahre her.‹
Als er kurz nach seinem Weggang erfuhr, dass Joe und Iris nun ein Paar waren, redete er sich so lange ein, dass es ihn nicht störe, bis er selbst daran glaubte. Irgendwann hatte er dann aufgehört, darüber nachzudenken, und das Thema einfach verdrängt. Die paar Male, die er seither in Landau zu Besuch gewesen war, hatte er es so gut es eben ging vermieden, Joe und Iris über den Weg zu laufen. Und nun war Joe tot, Iris war Witwe, und ihm war es egal.
Lorentz nahm die Hände kurz vom Steuer und rieb sie aneinander. Frierend fuhr er durch die sternenlose Nacht und war ganz allein mit seinen Gedanken. Sollte er nicht wenigstens ein kleines bisschen traurig sein? Zumindest betroffen? Nur ein klein wenig sentimental, um der guten alten Zeiten willen?
Irgendwo musste noch eine Kassette von Kathi, einer seiner Exfreundinnen, herumliegen. Sie hatte immer diese unmögliche Musik gehört, was auch einer der vielen Gründe dafür war, weshalb er sich von ihr getrennt hatte.
Kathi hatte sich manchmal sein Auto ausgeborgt und dann ihren ganzen Weiberkram drinnen liegen gelassen. Wie oft hatte er ihr gesagt, dass sie ihren Krempel doch bitte nicht in seinem Wagen liegen lassen sollte? War es denn so schwer zu verstehen, dass es Männer einfach irritierte, wenn sie auf der Suche nach Zigaretten Tampons im Handschuhfach fanden?
Er entdeckte die Kassette unter dem Beifahrersitz, zwischen einem Stadtplan von Rom und
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