Die Zahlen Der Toten
Monaten war ihm das verlorengegangen. Er konnte nicht länger ihr Gesicht heraufbeschwören oder den Duft ihres Parfums. Sie war zur Erinnerung geworden.
Was er davon halten sollte, war ihm nicht klar. Zwei Jahre lang hatte er nichts anderes getan, als sich in Trauer, Leid und Wut gesuhlt – und in Selbsthass. Anfangs ging es ihm um Bestrafung, doch dann nur noch um Rache. Alles war ihm egal. Sein Job, seine Freunde und seine Beziehungen. Und auch was mit ihm passierte, interessierte ihn nicht. Dann, quasi als letzte Chance, gab es diesen Fall und damit auch Kate. Kate mit den traurigen Augen, dem schönen Lächeln und den Geheimnissen, fast so dunkel wie seine eigenen. Und so war er wieder unter den Lebenden gelandet. Keine einfache Rückkehr für einen Mann auf Selbstzerstörungskurs. Zwar hatte er noch einen langen Weg vor sich, aber der Anfang war gemacht.
Es war klar, dass er Schuldgefühle haben würde. Die hatte er sowieso. Weil er lebte und Nancy und die Mädchen tot waren. Weil das Leben ohne sie weiterging. Weil
er
die Tragödie langsam hinter sich ließ. Dass er mit Kate schlief, würde alles noch komplizierter machen. Er war nicht in der seelischen Verfassung, eine Beziehung anzufangen, und auch nicht besonders gut darin, Menschen glücklich zu machen. Irgendwann würden Erwartungen aufkommen, und die, das wusste er, konnte oder wollte er nicht erfüllen.
Er glitt aus dem Bett, zog sich an und ging aus dem Zimmer, schnappte sich Mantel und Schlüssel und machte leise die Haustür hinter sich zu. Er wusste nicht, warum er davonlief. Vielleicht, weil man viel mehr Mut brauchte, sich jemandem nahe zu fühlen, als allein zu sein.
Die Nacht um ihn herum war so still, dass man den Schnee fallen hörte. Fast sechs Monate lang hatte er nicht mehr geraucht, doch jetzt brauchte er eine Zigarette so dringend wie ein Fixer seinen Schuss. Er machte die Beifahrertür auf, nahm das Päckchen Marlboro aus dem Handschuhfach und zündete sich eine an. Er hatte gerade den ersten tiefen Zug genommen, als quietschend die Haustür aufging.
»Rauchst du immer allein?«
Er drehte sich um und sah Kate in einem flauschigen Bademantel und gefütterten Mokassins auf der Veranda stehen. Trotz der zerzausten Haare und dem viel zu großen Bademantel sah sie unglaublich sexy aus.
»Ich wollte das Haus nicht zuräuchern«, sagte er.
»Ich kann ein Fenster aufmachen.«
Das tat sie dann auch, und schließlich saßen sie am Küchentisch und reichten die Zigarette hin und her, bis sie aufgeraucht war.
»Es scheint, als übe ich einen schlechten Einfluss auf dich aus«, sagte John.
»Ich zerstöre nur ungern dein Bild von mir, aber das war nicht meine erste Zigarette.«
Er betrachtete sie eingehend. Es gefiel ihm, wie ihr das Haar in die Augen fiel und wie sie es mit der Hand wegschob. In dem Moment wurde ihm klar, dass er so ziemlich alles an ihr mochte. »Und
wer
war dann der schlechte Einfluss?«
Sie grinste. »Ich habe eine Freundin namens Gina Colorosa. Wir waren zusammen auf der Polizeiakademie.«
»Aha, die wilden Akademiezeiten.« Plötzlich wollte er alles über sie wissen. »Und wie hat Gina es geschafft, ein nettes Amisch-Mädchen zu verderben?«
»Wenn ich dir das alles erzähle, musst du mich verhaften.«
»Gina gefällt mir immer besser.«
Eine Erinnerung ließ Kate lächeln, dann wurde sie ernst. »Ich habe nicht mehr hierhergepasst, besonders nachdem der Bischof mich unter
Bann
gestellt hatte.« Sie zuckte die Schultern. »Ich war jung genug, um mir einzureden, dass es mir nichts ausmacht. Und wütend und trotzig. Ich hab Geld für den Bus gespart und bin nach Columbus gezogen, als ich achtzehn wurde.«
»Das muss eine ganz schöne Umstellung gewesen sein.«
Sie lachte selbstironisch. »Na ja, ich war wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich besaß zweihundert Dollar und trug die Kleider, die meine Mutter genäht hatte. Ich hatte sie zwar gekürzt, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst es dir sicher vorstellen. Na ja, ich hatte kein Geld, keinen Job, keine Wohnung. Und ich kannte keine Menschenseele. Ich hab mehr oder weniger auf der Straße gelebt, als ich Gina das erste Mal begegnete.«
»Und wie hast du sie kennengelernt?«
»Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick.« Sie senkte den Kopf, dann sah sie ihn wieder an. »Es war kalt. Ich brauchte einen Schlafplatz. Sie hatte ihr Auto nicht abgeschlossen.«
»Du hast in ihrem Auto geschlafen?«
»Als sie am nächsten Morgen zur Arbeit
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