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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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zur Tür hinaus. Auf der langen Busfahrt nach Hause plante sie die Sprünge. Heute wollte sie eine Doppeldrehung versuchen. Immerhin war sie allein und keiner würde lachen, wenn sie auf den Hintern fiel. Um Viertel nach vier hatte sie sich umgezogen und schlüpfte aus der Tür, noch bevor ihre Mutter sie aufhalten konnte.
    Die Wolkendecke hing tief, als sie durch den Wald zum Teich stapfte. Das Eis würde nicht besonders glatt sein, wie immer, wenn Schnee gefallen, geschmolzen und wieder gefroren war. Aber gegen die Mutter Natur war man machtlos. Eines Tages würde Cori genug Geld haben, um auf die Eislaufbahn irgendeiner schicken Mall gehen zu können, wo rundherum tolle Läden waren und das Eis von einer riesigen Maschine geglättet wurde.
    Mit Schlittschuhen über der Schulter erklomm Cori den Hügel, um dann mit dem Blick auf Miller’s Pond belohnt zu werden, der wie ein mattes Fünf-Cent-Stück vor ihr lag. Sie lief den Hang hinunter zu dem Baumstumpf und zog hastig die Stiefel aus. Die Kälte kroch durch die drei Paar Socken, die sie anhatte, und beim Schnüren der Schlittschuhe zitterte sie von Kopf bis Fuß. Sie zog die Fäustlinge an, stakste zum Uferrand, betrat das Eis und fuhr los. Die raue Oberfläche bremste nicht ihren Lauf. In diesem Moment war sie Michelle Kwan, und die abgestorbenen Rohrkolben am Teichrand waren bewundernde Fans, die beim Anblick der anmutigen und schönen jungen Eiskunstläuferin aus Painters Mill, Ohio, aufgesprungen waren. Die Geschwindigkeit berauschte Cori. Sie hob die Arme wie eine Balletttänzerin und war eins mit dem Eis – ein Vogel im unendlichen Himmel, der sich nach Herzenslust drehte und auf und nieder schwang. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so dahinglitt, aber als sie aufblickte, hatte sich der Himmel noch weiter verdüstert. Schnee ist im Anmarsch, dachte sie und lief am Ufer entlang auf der Suche nach der besten Stelle, um ihre Doppeldrehung zu versuchen. Auf einmal hörte sie ein schwaches Motorengeräusch. Neugierig glitt sie zum nördlichen Ende des Teichs und stakste den Erdwall hinauf. Nicht weit von ihr verschwand gerade ein Schneemobil im Wald. Komisch, dachte sie, warum wohl jemand den ganzen Weg hierherkam und dann so schnell wieder verschwand?
    Sie wollte gerade wieder zurück aufs Eis, als ihr Blick auf etwas im Schnee fiel, das wie ein schwarzer Müllsack aussah. Der Typ mit dem Schneemobil hatte einfach seinen Müll hier entsorgt. Bescheuerter Abfallsünder. Dann fiel ihr ein, dass ihre Freundin Jenny ihr einmal von Leuten erzählt hatte, die sich so ihrer kleinen Kätzchen entledigen. Tierquäler fand sie noch viel schlimmer als Abfallsünder.
    Da sie keine Zeit verschwenden und die Schlittschuhe nicht ausziehen wollte, wackelte Cori über den gefrorenen, buckligen Boden den Erdwall auf der anderen Seite hinunter, wobei die Kufen bei der Berührung mit Steinen klirrten. Ihre Mom würde ihr niemals erlauben, einen ganzen Wurf Kätzchen zu behalten, aber sie konnte vielleicht Lori eins geben, deren Mutter Kätzchen mochte. Ungefähr fünfzehn Meter vor dem Müllsack blieb Cori stehen. Etwas Rotes war da im Schnee, es sah aus wie Farbe, doch plötzlich hatte sie ein komisches Gefühl im Bauch, wie manchmal nachts, wenn sie von einem schlechten Traum aufgewacht war. In dem Moment musste sie ausgerechnet an die schaurigen Geschichten denken, die die Kids im Bus über eine tote Frau erzählt hatten. Und an das ausdrückliche Verbot ihrer Mutter, heute zum Miller’s Pond zu gehen, weil sie dort nicht allein Schlittschuh laufen sollte. Aber Cori wusste, dass das nicht der wahre Grund gewesen war, und wünschte, sie hätte sich nicht heimlich fortgeschlichen.
    Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche und ging weiter. Hin und wieder blickte sie hinüber zum Wald und lauschte, ob sie das Schneemobil hörte. Aber da war nichts. Sie war kaum fünf Meter weit weg, als die Erkenntnis sie traf wie ein Schlag. Noch nie in ihrem jungen Leben hatte sie einen solchen Horror verspürt. Sie schrie auf und wusste in diesem Augenblick ganz sicher, dass der Anblick einer richtigen Toten absolut nichts mit den Leichen im Fernsehen zu tun hatte.
    Cori stolperte rückwärts und landete hart auf ihrem Po. »Omeingott!« Sie rappelte sich hoch und drückte mit zitternden Fingern die Kurzwahltaste für zuhause. »Mom! Ich bin am Teich! Hier ist eine tote Frau!«
    »Was?«
Wie aus ganz weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »O mein Gott, Cori, lauf weg,

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