Die Zarentochter
Getue einfach nicht mehr ertragen. Das Leben da draußen ist kein Karussell, das sich fröhlich im Kreise dreht. Und die Abermillionen von Menschen in Russland, für die ich als Zar eines Tages verantwortlich sein werde, tragen keine so herrlich bunten Kostüme, wie Mary sie heute Abend an ihren Gästen zu sehen wünscht. Nicht überall ist St. Petersburg oder Moskau! Die Tataren, Tschuwaschen, die Udmurten, Mordwinen und Mari – all die Völker der Wolga, sie leben in uns völlig fremden Welten. Alle haben ihre Eigenheiten, viele sind untereinander zerstritten, bekämpfen sich bis aufs Messer. Der ganze Kaukasus ist ein einziges Pulverfass –«
»Der Kaukasus?«, unterbrach Olly ihn. »Was ist da so besonders schlimm?«
Sascha winkte ab. »Ein Beispiel von vielen. Die Bergvölker und die Wolgavölker – Vater würde sie lieber heute als morgen alle zusammen in unser russisch-orthodoxes Reich integrieren. Aber wie willst du einen bekehren, der weder Russisch noch Französisch spricht, der Tierblut trinkt und zu irgendeiner seltsamen Gottheit betet?«
Olly verzog das Gesicht. »Tierblut? Von welchem Tier –«
»Ist doch bloß ein Beispiel!«, unterbrach Sascha sie ungeduldig. »Manche Traditionen mögen uns ungewohnt, teilweise rückstän digoder barbarisch gar anmuten, aber warum müssen wir ihnen unseren Glauben gewaltsam aufzwingen? Warum lassen wir sie nicht einfach weiterhin zu ihrem Allah beten, wenn sie dabei friedlich sind? Oder zu einem anderen Gott? Viel wichtiger wäre es doch, ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.«
Olly schaute den Bruder erstaunt an. »Solche Worte habe ich von dir bisher noch nicht gehört.«
»Tja, ich gebe zu, es hat eine Weile gedauert, bis ich die Wahrheit erkennen konnte. Und diese bittere Wahrheit lautet: Um unser Land ist es arm bestellt. Wenn Mary wüsste, was ich auf meinen Reisen alles zu sehen bekomme – die Armut, die Krankheiten, der Schmutz – vielleicht wären ihre Schwärmereien über unser Mütterchen Russland dann nicht mehr ganz so laut.«
»Aber wir tun doch schon einiges für die Armen und Kranken«, sagte Olly mit wenig Überzeugung. Wie oft war auch ihr schon der Gedanke gekommen, dass ihre mildtätige Arbeit für die Armenhäuser nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein war! Doch sie fügte stattdessen hinzu: »Und es ist auch nicht so, als ob wir aus unserem goldenen Käfig nicht hinauskämen. Immerhin waren Mary, Adini und ich vor ein paar Tagen in der Württemberger Kolonie, du weißt schon, hier ganz in der Nähe. Und ich sage dir – das ist auch ein wunderliches Völkchen.«
Der Besuch bei den Bauern, die aus einer deutschen Stadt namens Heidenheim stammten, hatte Olly mächtig beeindruckt, allerdings nicht nur im positiven Sinn. Zum einen hatte sie die Leute nur schlecht verstanden und immer wieder nachfragen müssen. Wofür plagte sie sich eigentlich jahrelang mit dem Erlernen der deutschen Sprache ab, wenn sie nicht einmal eine einfache Unterhaltung führen konnte?
Auch war ihr vieles in dem kleinen Dorf fremdartig und seltsam vorgekommen: Die düsteren Gesänge, die ihnen zu Ehren vorgetragen wurden. Die schwarzen Kleider der Frauen, die keine Trauergewänder, sondern Festtagstrachten waren, das gutturale Lachen der Männer mit ihren Schnurrbärten. Das dunkle Brot, das bitter schmeckte.
Maryund Adini war es nicht anders ergangen, alle drei waren sie froh gewesen, als sie sich nach einiger Zeit wieder verabschieden konnten.
»Seltsame Leute sind das … Mit welchem Feuereifer die ihre Fahnen geschwenkt haben! Wir hatten richtig Angst, eine davon auf den Kopf zu bekommen«, sagte Olly und kicherte. Ermutigt von dem kleinen Lächeln auf Saschas Gesicht, fuhr sie fort: »Und dann überall dieser Geruch nach saurem Kraut! Sogar unsere Kleider haben danach gerochen, mir war ganz schlecht davon. Ehrlich gesagt habe ich mir von diesem Besuch mehr versprochen. Tante Helene schwärmt doch immer so von den alten württembergischen Bräuchen.«
Sascha zuckte mit den Schultern. »Den Württembergern hier in der Gegend geht’s wirklich gut. Denen gehört der Grund und Boden, den sie bearbeiten, die werden von ihrer eigenen Hände Arbeit satt. Die Bauern hingegen, die Vater in den Steppengebieten zwischen der Wolga, ihrem Nebenfluss, der Kama, und dem Südural anzusiedeln versucht, denen gehört gar nichts! Selbst wenn sie den unfruchtbaren Boden Tag und Nacht beackern würden, hätten sie noch immer nicht genügend zu beißen.
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