Die Zarentochter
bemerkte.
Keine zwei Tage später rollte eine Kutsche vom Hof. Darin saß eine völlig eingeschüchterte Olga Kalinowski, körperlich erschöpft und mit den Nerven am Ende. Ihre Reise führte sie zu einem zwischen Moskau und St. Petersburg gelegenen Gut, wo polnische Verwandte die in Ungnade Gefallene aufnehmen mussten. Was blieb ihnen anderes übrig, da dies der ausdrückliche Wunsch des Zaren war? In dem Umschlag, den der Gesandte des Zaren dem Familienoberhaupt überreichte, war nicht nur ausreichend Geld für Olgas Logis gewesen, sondern auch die Information, dass Olga Kalinowski nicht lange bleiben würde, da ihre Eheschließung mit einem gewissen Prinzen Oginski kurz bevorstand.
Seinem Bruder Michael las Nikolaus so heftig die Leviten, dass dieser danach fluchtartig die Stadt verließ. Nikolaus sei ein Despot, und das nicht nur seine Untertanen betreffend, hörte man den Großfürsten noch auf der Straße nach Moskau schreien.
Sascha tobte und heulte, er flehte und bettelte seinen Vater an – vergeblich. Was für Mary möglich gewesen war – eine Heirat aus Liebe – galt für den zukünftigen Zaren Russlands noch lange nicht. Immer wieder hielt Nikolaus seinem Sohn vor, wie wichtig es war, durch politisch kluge Verbindungen Russland aus seiner jahrhundertealten Isolation zu holen und die Bindung mit dem Westen zu stärken, ohne sich dabei in Abhängigkeiten zu begeben.
»Dubist heute wieder einmal nicht gesprächiger als dieser Bursche hier«, sagte Olly, während sie an der Bronzestatue von Paul I. vorbeiritten. Sie warf erst ihrem bronzenen Großvater, dann Sascha, der neben ihr ritt, einen missmutigen Blick zu. »Jetzt sind wir schon seit fünf Tagen in Gatschina, und du hast den Manövern noch keinen einzigen Besuch abgestattet. Ich frage mich wirklich, warum wir die lange Strecke von fünfzig Kilometern auf uns nehmen mussten, wenn es dir gar nicht um einen Besuch der Truppen ging! Mit der Eisenbahn wären wir im Handumdrehen in Zarskoje gewesen. Dort oder in Peterhof hätten wir es viel schöner gehabt als hier an diesem schrecklich ungemütlichen Ort, der mehr einer Festung gleicht als einem Palast.«
Es war ein nebliger Herbsttag. Sascha und sie waren ausgeritten, während hinter ihnen die Truppen ihres Vaters die Herbstmanöver abhielten. Ab und an drangen durch den Dunst Wortfetzen einzelner Befehle zu ihnen herüber, ansonsten war außer dem Rascheln des Laubes unter den Pferdehufen nicht viel zu hören.
»Vielleicht ist mir nicht nach einer schönen Umgebung zumute«, sagte Sascha verdrießlich.
Noch während Olly versuchte, durch das Anwinkeln ihres linken Beines mehr Halt in dem Damensattel zu bekommen, spürte sie, wie ihr in den letzten Wochen strapazierter Geduldsfaden immer dünner wurde. Der Sattel war unbequem, die neblige Kälte war ihr in die Glieder gekrochen, seit Tagen schmerzte ihr Kopf, und kein Hausmittelchen, das Anna ihr zubereitete, half dagegen. Sie gehöre ins Bett, hatte sie erst am Morgen wieder schimpfend gesagt. Aber nein, statt ihr Kopfweh auszukurieren, leistete sie ihrem mürrischen Bruder beim Ausritt Gesellschaft oder begleitete ihn auf Spaziergängen. Spielte mit ihm Schach. Schwieg mit ihm. Hörte seinem Lamentieren zu. Trocknete seine Tränen und versuchte, das Feuer seiner Wut zu löschen. Oder ihn bei der Ehre zu packen. Alles vergeblich.
Kurz nach Olga Kalinowskis Abreise hatte ihr Vater Olly gefragt, ob sie sich nicht ein wenig um Sascha kümmern wolle. Sascha bräuchte nun jemanden an seiner Seite, der ihn tröstete und ihm gleichzeitig dabei half, wieder zur Besinnung zu kommen. Olly hatte sichgeschmeichelt gefühlt und gern zugesagt. Sascha und sie hätten schließlich schon immer einen besonderen Draht zueinander gehabt. Ihr Vater hatte ihr lobend auf die Schulter geklopft und gesagt, sie sei ihm eine wahrlich große Stütze.
Das war ja alles schön und gut, sagte sich Olly jetzt, während ihr linkes Bein dank der abgewinkelten Haltung einschlief. Aber auch die anderen könnten sich ein bisschen mehr kümmern. Stattdessen stolzierte ihre Mutter im renovierten Winterpalast umher, und die schwangere Mary machte es sich in ihrem Landhaus gemütlich. Die jüngeren Geschwister wurden durch ihre Erzieher sowieso von Sascha und seinen bitteren Reden ferngehalten.
Manchmal fragte sie sich wirklich, ob sie nicht einfach zu gutmütig war.
»Wie lange willst du eigentlich noch schmollen?«, fragte sie müde. »An Vaters Entscheidung wird sich nichts
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