Die Zarentochter
sie mir zu schmutzig, unfreundlich und zu angsteinflößend erschienen. Sie hingegen haben den Ärmsten der Armen geholfen.«
Er sah sie verständnislos an. »Gerade die brauchen doch unsere Hilfe. Um die Kinder in den Waisenhäusern kümmern sich genügend andere Wohltäter. Also helfe ich lieber auch einmal da, wo’s stinkt und einem schon das Hinschauen weh tut.«
Bevor Olly etwas dagegen tun konnte, stiegen ihr Tränen in die Augen. »Ich dachte immer, ich hätte das Wohl der Armen im Sinn, aber jetzt wird mir klar, wie dürftig ich bin. Ach, ich schäme mich so …« Sie weinte los. Helfen, wo schon das Hinschauen weh tut – so etwas hatte sie noch nie gehört.
»Olly!« Im nächsten Moment spürte sie seine Arme um sich, sein Atem kitzelte warm in ihrem Ohr, als er sagte: »Nicht weinen, den Leuten geht’s bald besser, das verspreche ich.«
Olly schluchzte. »So viel Edelmut habe ich noch nie erlebt. Sie sind ein guter Mensch«, sagte sie und umarmte Alexander innig.
17. KAPITEL
S chon vor der Begegnung mit den Zigeunern hatte Olly Alexander äußerst liebenswert gefunden, nun aber kam es ihr so vor, als bestünde eine tiefe innere Beziehung zwischen ihnen. Ihre Gespräche rankten sich nicht mehr allein um fröhliche Kindheitserinnerungen, sondern um Erlebnisse und Momente, die sie tief berührt hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben erzählte Olly einem fremden Menschen von dem Bootsjungen, der hatte sterben müssen, weil seine Familie zu arm war, um sich einen Arzt zu leisten. Und Alex ander sprach zum ersten Mal über die Einsamkeit, die nach dem Tod seiner Mutter seine erst dreizehnjährige Seele fast zerfressen hätte.
Immer öfter ertappte sich Olly dabei, dass sie in jeder Runde stets zuerst nach Alexander Ausschau hielt. War er nicht anwesend, verlor die Unternehmung sogleich einen Teil ihres Zaubers. Im umgekehrten Falle jedoch erschien die Sonne doppelt so strahlend, war jede Speise noch einmal so köstlich, jede Melodie noch romantischer.
»Cerises Bruder und du – ihr habt euch ja viel zu erzählen. Seid ihr dabei nicht ein wenig sehr schnell zu einem vertraulichen Du übergegangen?«, bemerkte Anna am Ende der zweiten Woche, als sie Olly am Abend beim Umkleiden half. »Ich hoffe nur, ihr versteht euch nicht allzu gut.«
»Wassoll denn das schon wieder heißen?«, entgegnete Olly konsterniert. »Alexander ist ein wunderbarer Mensch. Er ist nicht so affektiert wie viele Petersburger Herren, sondern ganz natürlich. Er bringt mich zum Lachen! Und das hat noch keiner geschafft, wenn ich nur an all die Bayernmaxen und österreichischen Albrechts denke.«
Anna, der gerade ein paar Haarklammern zwischen den Lippen steckten, hob nur vielsagend die Augenbrauen.
»Anna!« Unwillkürlich musste Olly lachen. »Nur weil du dich mit Hofmarschall Malikow zu Tode langweilst, muss es mir doch nicht ebenso ergehen. Gönnst du mir Alexanders angenehme Gesellschaft etwa nicht?«
Ihre Blicke trafen sich erneut im Spiegel. »Ach Kind, du weißt ganz genau, dass ich dir alles Glück der Welt gönne. Und deshalb kann ich nur hoffen, dass Erzherzog Stephan über den gleichen Unterhaltungswert verfügt wie Cerises Bruder. Apropos, hast du schon etwas von deinem Verlobten gehört?«, fügte sie zuckersüß hinzu.
Olly funkelte sie wütend an.
Eigentlich war es viel zu heiß für einen Ausflug, dachte Olly bei sich, während ihr Esel schwer atmend den schmalen Bergweg hinaufstakste. Schweiß rann ihr den Busen und den Rücken hinab. Unter dem Hut, den sie als Schutz gegen das gleißende Sonnenlicht aufgezogen hatte, kochte ihr Kopf fast. Doch abnehmen wollte sie den Hut auch nicht, denn bestimmt klebten ihre Haare hässlich am Kopf. Dabei hatte Alexander beim Aufbruch gemeint, sie sähe heute besonders reizend aus. Ihm schien die Hitze nichts auszumachen – statt zu reiten, stapfte er voller Elan neben seinem Esel den Berg hin auf. Was für ein Mann! Olly wurde es noch heißer.
Sie waren auf dem Weg zur Burg Lahneck, von der aus man laut Cerise einen atemberaubenden Ausblick über das ganze Tal hatte. Als Saschas Braut am Vorabend einer gespannten Zuhörerschaft die romantischen Sagen erzählt hatte, die sich um die uralte Burg rankten, waren alle fasziniert gewesen, und man dachte über einen Ausflug in großer Runde nach. Doch die Sonne, die schon während des Frühstücks unangenehm durch die Fenster drückte, hatte die Begeis terungrasch schwinden lassen. Bei dieser Hitze blieb man doch besser innerhalb
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