Die Zarin der Nacht
Glühwürmchen flimmern. Die Diener zünden die Kerzen an. Vom Teich her weht ein Geruch von Moder und Fäulnis.
War sie eitel? Gierig nach Schmeicheleien? MaÃlos? Verblendet? Dickköpfig? Unaufmerksam? Argwöhnisch? Eifersüchtig?
»Geh weiter«, befiehlt Grischenka. »Nicht stehen bleiben.«
Sie geht weiter, obwohl ihr nach all den Wochen ohne Bewegung die Beine wehtun. Ihre FüÃe schwellen an. In ihrer rechten Ferse spürt sie einen stechenden Schmerz.
»Wo willst du hin?«, fragt sie.
»Nirgendwo«, antwortet Grischenka.
»Und warum jagst du mich dann umher?«
»Weil wir uns bewegen müssen.«
»Warum?«
»Wenn wir anhalten, sterben wir.«
»Vielleicht will ich ja sterben.«
»Nein.«
Sie bleibt trotzig stehen, aber er zerrt sie weiter, immer weiter, bis sie vollkommen erschöpft ist. Erst dann hat er Erbarmen und lässt sie ausruhen.
»Ich lasse es nicht zu, dass du ihm ins Grab folgst«, wiederholt er. Sie schmiegt den Kopf an seinen Hals. Seine Lippen berühren die ihren. Seine Zunge schlüpft in ihren Mund. Sie schmeckt bitter.
Sie beginnt zu reden. Papa ist tot, und Maman. Beide sind sie fern von ihr gestorben. Sie hat sie nicht mehr sehen können. Panin, der immer ihren Sohn gegen sie aufgehetzt hat, starb an einem Schlaganfall. Grigori Orlow saà am Ende sabbernd in einem Rollstuhl, kein Funken des Wiedererkennens glomm in seinen toten Augen auf, wenn er sie ansah. Als gäbe es keinerlei Unterschied zwischen seiner Katinka und irgendeinem beliebigen Menschen, der ihm über den Weg lief.
»Sind wir wirklich Kinder der Vorsehung, Grischenka? Sind wir Gesegnete?«
Er antwortet nicht, aber seine Arme halten sie fest. Ein Gedanke blitzt in ihr auf: Solange sie sich noch in seiner Umarmung verlieren kann, wird sie die Kraft aufbringen, weiterzugehen.
*
Ihre Schiffe liegen bei Kaniw vertäut. Sie ist unterwegs auf die Krim. Ihre nächste Station ist Kajdaki, wo der österreichische Kaiser sie bereits erwartet.
Einen Traum aus Tausendundeiner Nacht nennt sie diese Reise. Das Jahr 1787 ist das Jahr eines Triumphzugs, ihrer groÃen Inspektionsreise durch die neu eroberten Landstriche im Süden. Grischenka, ihr Fürst von Taurien, führt ihr alles vor: fruchtbare Felder, die früher Steppe waren, neue Städte und Häfen, neue Handelsrouten, neue Flotten, neue Völkerschaften des Reichs in bunten Gewändern.
»Habe ich es dir nicht gesagt, Katinka?« Er grinst. »Habe ich zu viel versprochen?«
Sie sind ein ideales Paar. Ihre Gedanken folgen denselben Wegen. Niemand versteht so wie er, warum man Eroberungen machen muss. Andere sprechen von Reichtümern, die sie besitzen wollen, träumen davon, über alte Widersacher zu triumphieren oder Rache zu nehmen für Demütigungen, die ihre Vor
fahren vor vielen Jahrhunderten erlitten haben. Grischenka sagt: »Die Geschichte beweist es. Im Reich der Mitte gab es einen Kaiser, der die groÃen Schiffe zurückbeorderte und die Seefahrt verbot. Wer erinnert sich heute noch an ihn? Sobald ein Reich zu wachsen aufhört, fängt es zu welken an und stirbt.«
Die Russen sind keine Seefahrer, die ferne Länder jenseits des Meeres erobern oder Gewürzhandel treiben. Russland muss an sein Kernland angrenzende Gebiete in Besitz nehmen, wenn es wachsen will. Elisabeth hat ruhmreiche Kriege geführt, aber keinen FuÃbreit Boden gewonnen.
Katharina hat das Reich erweitert.
Peter der GroÃe stieà nach Norden vor, sie nach Westen und Süden.
Auf den kaiserlichen Barken herrscht rege Betriebsamkeit. Hofbeamte treffen letzte Vorbereitungen für einen reibungslosen Ablauf des Tagesprogramms. Diener mit Geschirr und frischen Tischtüchern, mit Speisen und Getränken eilen geschäftig hin und her. Maler suchen nach geeigneten Plätzen, an denen sie ihre Staffeleien aufstellen können. Sie sollen alle bedeutenden Momente der Reise in Skizzen festhalten und Bildmaterial sammeln, das später zu Gemälden und Skulpturen ausgearbeitet werden kann sowie zu Porzellanfiguren für die kaiserliche Tafel und die Kaminsimse des Palasts.
Grischenka hat an alles gedacht. Die kaiserliche Barke namens Dnjepr ist prächtig scharlachrot und reich vergoldet. Die Kaiserin hat dort ein Schlafzimmer, einen Audienzraum und ein Arbeitszimmer mit einem sehr schönen Schreibtisch aus Mahagoni. Ein Orchester steht jederzeit
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