Die Zarin (German Edition)
sollte die Tränen sehen, die mir in Strömen über mein Gesicht liefen.
Die Wahrheit über die Schlacht von Poltawa ist enttäuschender, aber auch unendlich viel eindrucksvoller und erschreckender als jede Legende, die sich um einen Kampf winden kann. Ich stand an jenem Morgen im Juni des Jahres 1709 am Eingang des Zeltes und sah zu, wie Peter seine Araberstute Finette, ein Geschenk des Schotten James Bruce, bestieg. Der Himmel war bedeckt. Wolken ballten sich zusammen, und der leichte Wind, der sich in den Wipfeln der Bäume fing, konnte sie nicht vertreiben.
Menschikow stellte seinem Zaren die Steigbügel ein und küßte dann die Hand seines Herrschers. Peter beugte sich aus dem Sattel und umarmte Alexander Danilowitsch für einen langen Augenblick. Es schien, als flüsterten sie sich leise Worte zu. Peter setzte sich wieder auf. Wie auf ein Zeichen hin sanken vierzigtausend Soldaten und die Generäle des Zaren vor ihm auf die Knie. Er sah einen Augenblick auf das Meer der ihm treu ergebenen Männer und schwieg. Der Wind ließ erst die Federn an seinem Hut wehen, ehe er in den schweren Falten seines Mantels zur Ruhe kam. Mit einem Mal brach jedoch der Himmel auf, und zwischen den letzten Tropfen des weichen morgendlichen Regens legte sich ein Sonnenstrahl auf den Zaren. Ein ehrfurchtsvolles Murmeln ging durch die Reihen seiner Männer, und einige von ihnen bekreuzigten sich. Peter ließ Finette einmal steigen und hob dann zu sprechen an. Nur ich wußte, daß er bis spät in die Nacht mit Feofan Prokopowitsch über der Ansprache gesessen hatte.
»Gott im Himmel!« rief er aus, und der Wind schien seine Worte bis zum letzten seiner Männer zu tragen. Ein Schauer lief mir über die Haut.
»Laß all die Truppen unserer Mutter Rußland wissen, daß nun die Stunde gekommen ist, in der das Schicksal der Bärin in ihren Händen liegt! Männer! Ihr entscheidet, ob unser Rußland auf ewig wiedergeboren wird oder für immer an den schwedischen Teufel verloren ist! Denkt nicht, daß Ihr für mich zu den Waffen greift! Es ist nicht meine Eitelkeit oder mein Durst nach Ruhm, der Euch in den Kampf schickt! Ihr zieht in die Schlacht für das Reich, das Gott in seiner Gnade Peter Alexejewitsch Romanow in Eurem Namen anvertraut hat. Sein Vertrauen ist es, das mich für Euch, Eure Kinder und alle Menschen in Rußland sorgen läßt! Nun aber erwartet das Reich eine Entscheidung, die in Euren Händen allein liegt!«
Er schwieg wieder einen Augenblick. Finette tänzelte unruhig, und er zwang sie zur Ruhe. Dann holte er Atem, und wieder hallte seine Stimme über das Schlachtfeld. »Laßt Euch nicht zum Narren halten: Die schwedischen Soldaten haben keine wundersamen Kräfte! Sie haben ein Herz, das schlägt wie das Eure, und ihr Blut fließt wie das Eure! Öffnet Eure Augen für die Wahrheit und fühlt, daß Gott mit Euch und Rußland ist! Von mir wißt nur eines …« Wieder schwieg er, und ich spürte den erwartungsvollen Blick der über vierzigtausend Augenpaare, die sich auf ihn legten. Er hob von neuem an:
»Von mir wißt nur eines: Der Zar Peter legt keinen Wert auf sein eigenes Leben! Mein Leben ist nur wertvoll, wenn auch Rußland lebt, wenn auch Ihr lebt! Jeden Tropfen meines Blutes gebe ich für die Größe, den Ruhm und die Gottesfurcht aller Russen!«
Finette bäumte sich auf, und der Zar schlug ihr aufmunternd die Sporen in die Seiten. Er galoppierte durch die Reihen seiner Männer, die sich wie eine Welle nach ihm erhoben: Sie bekreuzigten sich und stimmten aus heiseren Kehlen ein Kirchenlied an. Er verschwand mit wehendem Mantel und stiebenden Hufen aus meinem Blickfeld, und ich dachte ehrfürchtig: Sollte er heute in der Schlacht sein Leben lassen, so hatte ich die würdigste Stunde des Zaren aller Russen bezeugt! Die Generäle Scheremetjew, Ronne, Menschikow und Bruce bekreuzigten sich ebenfalls und schwangen sich auf ihre Pferde. Ihre Truppen gingen wie ein einziger, gewaltiger Körper in stummem Einverständnis ineinander auf. Das Heer ging in Stellung gegen die Schweden: Beide Flügel standen unter dem Befehl von Ronne und Scheremetjew. Die Mitte hatte Menschikow zu gehorchen, während die Artillerie den Befehlen von James Bruce folgte.
Nur Peter, so hieß es später, war überall zugleich: Er trieb Finette unbarmherzig über das Schlachtfeld und schrie Befehle, Ermutigungen und Beleidigungen in die tobende Masse, so daß Roß und Reiter der Schaum vor dem Mund stand und ihnen die Augen ins Weiße
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