Die Zarin (German Edition)
verschwand dieser bei Nacht und Nebel mit Afrosinja und dem Österreichischem Gesandten Kühl aus der Festung.
Niemand hatte etwas gesehen. Niemand hatte etwas gehört. Niemand wollte etwas sagen.
Rumjanzew warf sich wieder in den Sattel: Nach Norden, seinem Vater entgegen, konnte der Kronprinz kaum gereist sein. Also richtete er sein Pferd nach Süden, nach Italien. Er wollte Alexej jagen, bis ihm selber das Blut vor Erschöpfung aus den Poren trat.
Die feuchte Kälte in Mecklenburg kroch mir in die Knochen. Jede Bewegung schmerzte, und meine Gliedmaßen schienen auf ihre doppelte Größe angeschwollen. Mir fehlte der trockene, geheimnisvolle Winter von Sankt Petersburg. Wo war die baltische Luft, die einen in ihrer klaren Kälte gefangenhielt? In den Wäldern und Sümpfen des Baltikums heulten die Wölfe jetzt in der Nacht vor Hunger. Die Bauern aßen Kohleintopf, salzige kascha und tranken bitteren kwas . Im Winter taten sie nichts, als zu überleben. Ihr Blut war das meine und klumpte sich im Winter zu einer zähen, dickflüssigen Masse zusammen. Wir waren wie die Bären unseres Winters. Und Sankt Petersburg, meine Stadt! Wie schön sie war um diese Zeit! Ich schloß die Augen und versuchte, mir den Newski-Prospekt meiner Stadt vorzustellen. Ich roch den Schnee in der blauen Luft und konnte die Dichte des Eises auf der Newa spüren. Ich sah den Widerschein des kurzen Lichtes auf den bunten Wänden der Paläste und Häuser. Ich erkannte die in Pelze gehüllten, hastig dahineilenden Gestalten auf den Prospekten und dem Eis der Newa, die dort die wenigen hellen Stunden des Tages für ihre Geschäfte nutzten. Mein Blick verlor sich in der Dunkelheit, die sich schützend wie ein Zauber in mehreren Lagen um die Stadt legte. Hinter jedem ihrer geheimnisvollen Schleier formten sich eigene kleine Welten aus den Rufen der Kastanienhändler, den Glocken an den Eingangstüren der kabaki , dem Knirschen der Schritte im unwirklichen Leuchten des Schnees und dem leisen Zischen, mit dem Schlittenkufen auf dem Eis ihre Spuren zogen. Ihr scharfes Metall schlug Funken, die in der Luft zu Sternen gefroren.
Ich jedoch sollte mein Kind in der Fremde zur Welt bringen: Dieser Gedanke beschäftigte mich in jenen Wochen mehr als jede Frage nach Alexej. Im Spiegel sah ich ein müdes, blasses Gesicht und eine schwere, aufgeschwollene Gestalt, die in zeltartige Gewänder gekleidet war. Andere Frauen meines Alters lebten schon längst als verehrte babuschki zufrieden im Kreise ihrer Familie. Ich dagegen zog noch immer mit Peter in den Krieg, feierte die Nächte mit ihm durch und schenkte unter Schmerzen einem Kind nach dem anderen ein Leben, das oft, viel zu oft, nur wenige Stunden dauerte. Ich war müde.
In einem Gasthaus in Wesel brachte ich an einem feuchten Januarnachmittag einen Sohn zur Welt. Ich wartete dort darauf, Peter nach Amsterdam folgen zu können, wo er sich mittlerweile aufhielt. Es war eine einfache Geburt: Nach nur zwei Stunden Wehen lag der kräftige Säugling strampelnd zwischen dem Stroh und den Laken meines Lagers. Er krähte vergnügt, als die Hebamme ihn mit warmem Wasser und einem weichen Tuch abwusch. Der Prinz saugte voll Kraft an der Brust einer eilig herbeigeschafften Magd. Ich ließ den Kleinen auf den Namen Paul Petrowitsch Romanow taufen. Ein Bote verließ Wesel umgehend in Richtung Holland. Der Zar antwortete voll Stolz über die gesunde Geburt eines weiteren Rekruten. Gleichzeitig sandte er Briefe an die Höfe von London, Paris und Madrid, um die frohe Botschaft bekanntzumachen. Ehe die Briefe an ihrem Bestimmungsort ankamen, war Paul jedoch schon in dem Durcheinander von Menschen, Gepäckstücken, nassen Umhängen, schweren Kleidern, kalter Zugluft und überheizten Kachelöfen gestorben. Die zarten Züge meines kleinen Sohnes verfolgten mich noch lange, nachdem der Sargdeckel zugenagelt worden war.
Der Zar kehrte drei Monate später aus Frankreich zurück: Er hatte Paris besucht und in Spa die Wasser genommen. Er teilte seinen Frohsinn und seine Erinnerungen mit mir: die gurgelnden Geheimnisse, die der Fluß Seine ihm in das Ohr gespült hatte, und die Geschichten der Pariser Kurtisanen. Er stopfte sich einen Hühnerflügel gleichzeitig mit einer gebratenen Kartoffel in den Mund und sagte: »Ich habe sogar die Maintenon gesehen, das heuchlerische alte Weib! Alles weist darauf hin, daß der große Louis sie noch vor seinem Tod geheiratet hat! Was hatte er denn noch zu fürchten? Sie
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