Die Zarin (German Edition)
schnurgerade Straße vor uns. Sie lief gemeinsam mit anderen Wegen sternförmig auf die Stadt zu: Das hatte Peter mir auf einer Karte im Schein des Feuers bei unserem Nachtlager gezeigt. Ich lachte und schüttelte den Kopf: »Soviel Ordnung würde mich wahnsinnig machen, glaube ich!«
Die Bauern bei der Ernte hielten in ihrer Arbeit inne und starrten auf unsere Erscheinung. Ich sah selber nach hinten und mußte über das erstaunliche Bild vor meinen Augen lachen: Über fünfhundert Wagen und Kutschen zogen in einer Wolke von Staub, Lärm und Gestank über die harmlosen kleinen Landstraßen hin nach Berlin. Die Ochsen vor den Karren brüllten unter den Peitschen der Kutscher. Die festgefahrene Scholle der Straße bröckelte unter ihren Hufen. Die Pferde stiegen unruhig in der Hitze des Nachmittags, und Kinder und Mädchen aus den Dörfern liefen mit dem Troß mit, um zu gaffen. Am meisten Aufsehen erregte dabei eine kleine Gruppe von Männern, die allesamt hoch zu Pferd saßen: Sie waren so hochgewachsen, daß ihre Füße kaum in die Steigbügel mit den kurzen Riemen paßten. Die Männer waren Peters Geschenk an Berlin. Der Zar hatte sie in ganz Rußland zusammensuchen lassen, denn der König von Preußen liebte hochgewachsene Soldaten.
Das Land hinter unserem Zug sah aus, als sei ein Schwarm Heuschrecken darüber hergefallen, um es kahlzufressen. Ich glaube kaum, daß den Menschen dort viel übrigblieb, um sich den Winter hindurch zu ernähren.
Peter hatte mir noch am Vorabend unserer Ankunft eine rasche Lehrstunde über unsere Gastgeber, den König Friedrich Wilhelm und seine Familie, gegeben. »Eigentlich ist er gar kein König, weißt du – sein Großvater hat sich den Titel gerade erst selber gegeben, aber wollen wir mal nicht so sein. Auch mein Großvater war schließlich der erste Zar unserer Familie!« sagte er im Schein des Lagerfeuers, das vor dem Jagdschloß brannte, in dem wir die letzte Nacht vor unserer Ankunft verbrachten. Peter zog es vor, in der warmen Nacht am Feuer zu schlafen, als sich in eines der kleinen Zimmer zurückzuziehen. »Wenigstens war man in Berlin nicht so feige wie der dicke August in Sachsen, der zur katholischen Religion übergetreten ist. Nein, der Große Kurfürst wollte, daß sein Preußen lutherisch und weltoffen bleibt …« Er sah in die Flammen und schien nachzudenken. »Der jetzige König ist mehr als sparsam und bescheiden, heißt es – ein guter Mann! Sein Hof und seine Entourage sind auch eher klein, hat man mir geschrieben – nur zwei Kammerherren! Das ist meinem Herzen nahe!« Ich dachte kurz an die ungeheure Zahl von Menschen, die uns begleiteten. Wenn es in Rußland eines im Überfluß gab, so waren dies Menschen. Hoffentlich war man in Berlin darauf vorbereitet! Peter sprach weiter. »Aber der alte Fuchs hat damals schon gewußt, was er tat: Alle Lutheraner mit einem klugen Kopf auf den Schultern flohen nach dem Edikt von Nantes des großen Louis zu ihm nach Preußen. Also sind in Berlin nicht nur die Flüchtlinge aus der Pfalz, aus Franken, Thüringen und Österreich versammelt, sondern auch jede Menge Hugenotten aus Frankreich! Sie haben Preußen ungemein bereichert! Kein Wunder, daß Berlin mittlerweile eine Stadt ist, die ihresgleichen sucht!« schloß er mit mürrischer Ehrerbietung.
Als wir in Berlin einfuhren, erinnerte ich mich mit einem Mal an den blassen, schönen Andreas Schlüter, den ich vor Jahren in Sankt Petersburg am Kai der Newa empfangen hatte. Er hatte unermüdlich für den König in Berlin gebaut, bis er bei ihm in Ungnade fiel: Die Fundamente eines Turmes, der so hoch sein sollte, daß er die Wolken durchbrach, waren falsch berechnet gewesen. Was hätte Schlüter noch schaffen können! Die neue Stadt, die sich aus dem ehemals schmutzigen, stinkenden Dorf Berlin schälte wie ein Schmetterling aus seiner Puppe, war geradlinig schön angelegt. Auf den Alleen warfen dichtbelaubte Bäume einen satten Schatten, und Spaziergänger vergnügten sich auf den Straßen in Kaffeehäusern und vor den Buden fliegender Händler und Gaukler. Entlang der breiten Straße, die hinunter zur Spree führte, ragten stattliche Adelspaläste auf, und sowohl das Stadtschloß als auch Schloß Charlottenburg waren in ihrer Pracht und Größe beeindruckend.
»Mein russischer Freund! Peter! Endlich …«, rief der König aus, als er uns begrüßte. Er drückte Peter an sich. Beide Männer hielten sich einen Augenblick auf Armeslänge fest, nur um sich dann wieder
Weitere Kostenlose Bücher