Die Zarin (German Edition)
meinem Kind starb auch die Erinnerung und die Liebe zu seinem Vater. Ich verfiel in Schwermut, während mir Karin eine Woche lang heiße, stärkende Brühe und kwas in den Mund löffelte. Ich hatte viel Blut verloren. Was konnte ich vom Leben denn nun noch erwarten? Wie, so fragte ich mich, hatte Karin nur so einen Unsinn in meiner Handfläche lesen können?
Der König der Schweden liebte den Krieg um des Krieges willen: Seine Truppen sicherten sich zuerst Livland und besetzten im Juli 1701 dann auch noch Kurland. Dann aber begann das Blatt sich zu wenden: Der russische General Scheremetjew schlug die Schweden zum ersten Mal bei Errestfer in Livland. Im folgenden Juli besiegte er den schwedischen General Schlippenbach bei Hummuli. Ende Juli wurden wir in der Garnison gewarnt: Die Russen wollten Marienburg stürmen! Wohin sollte ich gehen? Ich wußte, im Pfarrhaus war ich jederzeit willkommen. Es war neben dem Rathaus das einzige Haus aus Stein in Marienburg: Dies sollte bei einem Sturm der Russen sicherer sein als die Garnison aus Holz. Doch die Aussicht, mit der Verlobten von Johannes unter einem Dach zu wohnen, lockte mich nicht im geringsten. Ich blieb, wo ich war.
Am 25. August 1702 nahm General Boris Petrowitsch Scheremetjew, ein Abkömmling einer der ältesten und feinsten Familien Rußlands, Marienburg ein: Es war ein Tag von Feuer und Tod, Angst und Flucht, Rauch und Blut. Ich verschanzte mich in meiner Stube. Außer Frauen allen Alters und den kleinsten Kindern war in der Garnison niemand mehr zu sehen. An allen Enden der Stadt wurde gekämpft: Die Kanonenkugeln donnerten gegen den Stadtwall und walzten die Häuser aus Holz platt, auf die sie fielen. Rauch stieg aus mehreren Vierteln Marienburgs auf, und die Bürger taten ihr Bestes, um die Feuer zu löschen, ehe die ganze Stadt niederbrannte. Die Truppen kämpften in und außerhalb der Stadt in dem betäubenden Lärm der Kanonen, dem Gestank nach Schwefel, Blut und Pulver und hinter einer Mauer aus Qualm und Rauch. Schon gegen Mittag wurde deutlich, daß die in dem kaiserlichen Grün des Zaren gekleideten russischen Truppen die Oberhand behielten. Die schwedische Fahne fiel am Nachmittag, und die Frauen gingen auf das Feld, um nach ihren Männern zu suchen. Karin verlor sowohl ihren Mann als auch ihre Söhne. Sie sperrte sich in ihrem Schmerz in ihrer Stube ein, und ihre Klagen drangen durch die gesamte Garnison, durch die sich nur noch Alte und Krüppel schleppten.
In den Tagen darauf wagte kein Mensch, der noch ganz bei Verstand war, seinen Fuß vor die Tür zu setzen. Gefangengenommene Schweden wurden von den Russen in Stallungen und Verschläge gepfercht. Angeblich vergnügten sich die Soldaten des Zaren dann damit, die Häuser samt ihren unglücklichen Gefangenen lichterloh in Brand zu stecken. Sie plünderten die Bürger von Marienburg und schleppten und brachen gierig aus den Häusern, was nicht niet- und nagelfest war. In der Kirche Ernst Glücks übten sie sich im Messerwerfen auf das Bild der Dreifaltigkeit über dem Altar, schmolzen die Altarleuchter und den Abendmahlskelch ein, stahlen seinen Vorrat an Wein und Kerzen und verheizten nachts in ihrem Lager die Kirchenbänke in hohen Freudenfeuern.
Drei Tage nach dem Sturm auf Marienburg klopfte es an die Tür meiner Stube. Ich erstarrte in meiner Bewegung: Ich war gerade dabei, Karotten für eine dünne Suppe zu schneiden. Außer etwas Gemüse, das noch im Garten der Garnison wuchs, und etwas Hafer hatte ich nicht mehr viel zu essen. Der Hunger bedrohte die Stadt, denn die russischen Truppen herrschten in Marienburg wie die Dreifaltigkeit aus Feuer, Sturm und dem Schwarzen Tod. Die Tore der Garnison standen nun Tag und Nacht jeglichem heimischen und russischen Gesindel offen, und die Hälfte des Gebäudes sowie der Wall aus Holz waren verbrannt und geschleift worden. Wer konnte das sein, der da klopfte? Es war nur kurz vor der Stunde des Ausgehverbotes. In unseren hellen Sommernächten, in denen die Dunkelheit sich nur wenige Stunden lang zu einem verblichenen Grau durchringt, war es fast unmöglich, dieses Verbot zu umgehen. Ich räumte das Essen weg und nahm das Messer fest in meine Hand. Ich näherte mich mit leisen Schritten der Tür.
»Wer ist da?« fragte ich mit belegter Stimme.
»Martha Trubach?« fragte eine Stimme zurück.
»Ja? Wer ist da? Was gibt es?« flüsterte ich.
»Ich bringe eine Nachricht von Karoline Glück … es handelt sich um Johann«, murmelte die Stimme
Weitere Kostenlose Bücher