Die Zarin (German Edition)
dazu bist du viel zu gut. Du rettest Mädchen, die auf der Straße geschändet werden. Menschikow hätte da vielleicht eher mitgemacht, wer weiß?«
Anstatt einer Antwort knurrte er nur wie ein alter Bär.
Scheremetjew und ich unterhielten uns noch bis tief in die Nacht hinein. Wir waren mittlerweile fast alleine im Zelt. Ich lernte so viel aus meinen Gesprächen mit ihm, und er war endlos geduldig mit meinen vielen dummen Fragen! Ich mußte doch lernen – mein Leben war nun an das unserer russischen Eroberer gebunden. Wo sollte ich denn sonst hingehen? Hatte ich bisher geglaubt, daß sich die Veränderungen, die der Zar seinem Land aufzwang, sich auf Bärte und Kleider beschränkten, so lachte mich Scheremetjew dafür aus. In Wahrheit, so sagte er, hatten seine Reisen dem Zaren nach den ersten, vergeblichen Bemühungen von Sophia und ihrem Geliebten, Prinz Golizyn, die Augen geöffnet für die verstaubte Rückständigkeit seines Reiches. Er griff wie voller Zorn auf sein eigenes Land in alle Bereiche des russischen Lebens ein: das Vergnügen, das tägliche Leben, die Landwirtschaft, die Erziehung, die Religion, die Verwaltung und vor allem das Heer. Er griff sich das riesenhafte Land wie ein Stück weichen Teig, aus dem wir unsere Fladen formen. Allerdings erwies es sich in seinen Händen als ebenso zäh, und die Hefe, die er zusetzte, wollte oft nicht so recht aufgehen.
Nach Scheremetjews Ansicht zwang der Kampf auf Leben und Tod mit den Schweden das Russische Reich zum Aufbruch in eine neues Zeitalter. Peter brauchte Geld, Männer und Ausstattung, und alles in kürzester Zeit!
»Der Krieg allein bringt die Zukunft und den Fortschritt: Er bestimmt ihren Kurs, ihren Schritt und natürlich auch ihren Ausgang!« predigte er, als mir schon fast die Augen zufielen. »Trink noch was, Martha, dann kannst du besser zuhören!« befahl er mir, und ich gehorchte. Das Bier erfrischte mich.
»Wie soll ein Land denn seinem Willen in so kurzer Zeit gerecht werden? Es ist wie ein altes Mühlrad, das sich gemütlich vor sich hin dreht und langsam verfault. Und dann kommt ein neuer Müller und zwingt es, schneller und besser zu mahlen als je zuvor! Kein Wunder, daß hier und da die Sprossen vom Rad fliegen und ein alter Mühlstein bricht«, schimpfte er, und seine Stimme klang fast verzweifelt. Sein sehr bildhafter Vergleich ließ mich lachen, aber er fuhr voll Leidenschaft fort: »Du kannst dir nicht vorstellen, Martha, was Peter seinem Volk für eine Bürde auferlegt! Du kannst es dir einfach nicht vorstellen! Unsere veraltete Verwaltung knackt und knarrt, sie bricht aus allen Fugen. Wir Russen sind nicht an echte, straffe Führung, die das ganze Land erreicht, gewöhnt – sicher, wir hatten die Woiwody, die Räte und Steuereintreiber! Aber nun dies – seit zwei Jahren braucht Peter eine Unmenge von Männern, Geld, Planung, Führung und Rückhalt! Jede Familie, ob arm oder reich, ob Seelen oder Gutsbesitzer, muß ihm Soldaten stellen! Die Manufakturen werden auf Vordermann gebracht, und neue Quellen des Wohlstandes werden geschaffen. Er braucht Tausende von Arbeitern und jagt die Söhne seiner Adligen ins Ausland, damit sie andere Sprachen und Sitten lernen! Selbst die Jugend, die in Rußland bleibt, muß studieren. Er baut eine Flotte! Eine Flotte! Vor fünfzehn Jahren wußte kein Mensch in Rußland, was ein Schiff ist! Nein, ich sage dir, es ist der Krieg allein, der Rußland in die Zukunft zwingt. Der Zar mit seiner Eisenfaust wird zusehen, daß es auch so weitergeht. Alles zugleich, in alle Richtungen. Wie ein Flohzirkus. Und es ist gut so, auch wenn Rußland ihm vielleicht erst in hundert Jahren dafür danken kann!« schloß er bitter.
»Aber der Krieg ist doch vorbei! Du hast ihn doch gewonnen!« rief ich aus.
Er lachte. »Was bedeutet schon Marienburg, Martha! Es geht um viel mehr! Um einen eisfreien Hafen, den Aufbruch in den Westen, das Bündnis mit den anderen Mächten – solange Karl und Peter leben, wird weitergekämpft. Und das kann noch gut zwanzig Jahre dauern. Ahnst du, wie weit der Zar gehen kann? Als nach der Schlacht bei Narwa die russischen Kanonen verlorengingen, weißt du, was er da gemacht hat?«
»Nein«, antwortete ich und schüttelte den Kopf.
»Er nahm die Glocken aus den Kirchen Rußlands und ließ sie zu Kanonen schmelzen! Der Zar braucht Eisen, also her mit den Glocken! Die heiligen Glocken der Mutter Kirche! Vor was, frage ich mich, macht so ein Mensch halt?« Er sah sich um, wie um
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