Die Zarin (German Edition)
du, wie ein Mann nach Jahrzehnten Haft in den feuchten Zellen von Schlüsselburg aussieht? Oder wenn die Kälte Sibiriens an seinen Knochen frißt?«
Mir schien, als sei Peters Seele aus seinem offenen Mund geschlüpft und durch Elisabeths Ohren in ihren Körper gefahren. Sie liebte im Stehen den Soldaten vor der Tür, war dann im nächsten Augenblick am Totenbett ihres Vaters in Tränen aufgelöst und dachte nun daran, ihren kleinen Neffen in den modrigen Kellern der Schlüsselburg, deren Steine auch im Sommer mit Eis überzogen waren, verderben zu lassen! Eine echte Russin war sie wohl: voll wilder Schönheit, Trauer, Trotz und mir von einem Augenblick auf den anderen zutiefst fremd.
Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihr: »Was auch immer geschieht, Elisabeth: Peter Alexejewitsch darf nichts geschehen. Wenn ihm etwas passiert, steht der oder die Verantwortliche vor den Augen ganz Europas als Königsmörder da und wird nie als rechtmäßiger Herrscher anerkannt. Willst du das?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ich wiederholte: »Er muß leben, was auch immer geschieht. Beständigkeit, Elisabeth, Beständigkeit.«
Sie sah mich an und nickte. Nach einem Augenblick des Schweigens legte sie den Kopf schief, so daß ihre Kapuze in dem flackernden Licht der Kerzen einen Schatten über ihre Augen warf und ihnen ihre erstaunlich blaue Farbe nahm.
»Wenn Peter Alexejewitsch doch nicht mal der Zarewitsch ist und keiner meiner Brüder mehr lebt …«
Sie schien jedes ihrer Worte vorsichtig abzuwägen. Ich wollte sie für diese Überlegung schlagen, fragte jedoch nur kühl: »Ja und, was dann?«
Sie reihte ihre Worte bedächtig aneinander: »Nun, wenn alle tot sind und Anna nun nach Deutschland heiratet, dann …«
»Dann?« half ich ihr ungläubig weiter.
»Dann bleibe doch nur noch ich! Vater hat mich geliebt! Weshalb kann dann ich jetzt nicht Zarin sein?«
Fast hätte ich weinen wollen. Hier stand dieses dralle, sinnenfreudige und zutiefst faule Geschöpf, das ein unsinniger Zufall der Liebe und eine Laune der Natur zu meiner Tochter und Zarewna von Rußland gemacht hatte. Sie wollte Zarin sein! Peters Reich, unermeßlich wohlhabend und doch auch von blutiger Armut und unglaublichem Elend, sollte ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein! Krieg und Frieden sollten an den Fingerspitzen ihrer weichen, molligen Hände, die Männer so gerne küßten, hängen. Politik sollte ihrem kleinen Kopf entspringen, den sie im Augenblick nur dazu verwendete, die neueste Perücken- und Hutmode auszuprobieren! Herrin aller Kasernen, im wahrsten Sinne des Wortes!
»Elisabeth!« Ich mußte nun wider Willen lachen, und als ich einmal damit angefangen hatte, konnte ich auch nicht mehr aufhören. Ich lachte, lachte und lachte, bis mir die Seiten schmerzten. Die Ärzte rotteten sich besorgt in der Ecke zusammen. Blumentrost zuckte die Schultern. Sie glaubten wohl an einen Anfall. Das Gesicht meiner Tochter wurde rot vor Wut, und sie schrie mich fast an: »Hör sofort auf zu lachen! Das ist mein Recht! Mein gutes Recht! Ich will Zarin sein!«
Sie sprang mich an wie ein kleiner Affe in meinem Lustgarten in Peterhof. Es fehlte nicht viel, und sie hätte mit ihren Fäusten auf mich eingeschlagen. Aber in diesem Augenblick war Menschikow mir schon zu Hilfe gekommen: Er griff sie mit einem Arm um den drallen Leib und hielt ihr ohne weitere Umstände den Mund zu. Sie trat mit den Füßen um sich. Er ließ sie toben, und ich musterte sie sprachlos. Ich bin mehr die Mutter meiner toten Söhne als die meiner lebendigen Tochter, dachte ich plötzlich. Ich erkannte mich nicht in ihr wieder. Dieser irrsinnige Zorn und diese Eifersucht war auch Peter nicht zu eigen gewesen. Auf einem Hofball im letzten Winter, bevor Peter erkrankte, war ich selbst Zeugin ihrer Maßlosigkeit gewesen: Elisabeth hegte einen unseligen Neid und Hass auf ein gleichaltriges Mädchen, die anmutige Natalja Balk. Sie war die Tochter des General Balk und der schönen Anna Mons, Peters erster Geliebter. Natalja Balk galt schon damals trotz ihrer jungen Jahre als schönstes Mädchen in Rußland, und sie kannte kein Begehren: Der Hof lag ihr zu Füßen. Als Natalja Balk auf jenem Ball mehr Eintragungen auf ihrer Tanzkarte hatte als Elisabeth selber, ohrfeigte meine Tochter das arme Mädchen zweimal und riß ihr vor aller Augen auf dem Parkett ein Büschel Haare aus. Peter lachte Tränen, aber ich ließ den Streit unterbrechen. Natalja Balk wurde aus den Händen meiner
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