Die Zauberlehrlinge

Zeitbombe noch ticken und darauf warten zu explodieren, wenn ich sterbe und die Schublade geöffnet wird.«
    »Wie soll es dann also weitergehen?«
    »Ich muss dem ein Ende machen. Das verstehen Sie, nicht wahr? Obwohl Sie es lieber nicht verstünden.« Mit einem tröstenden Lächeln sah sie ihn an. »Sie sollten jetzt gehen, Harry. Wirklich!«
    »Ohne die Notizbücher?« Langsam stand Harry auf. Er schaute an Athene vorbei durch das Fenster, wo das Tor zur Straße, die Mauer daneben, die Dächer auf der anderen Seite und der ferne Umriss eines Wasserturms vor dem blassblauen Himmel von Suffolk ihm versicherten, dass die vertraute physikalische Welt noch immer existierte, ihren vierdimensionalen Regeln gehorchte und die Kräfte und Wahrnehmungen, von denen diese alte Frau sprach, als Wahnsinn abtat. So oder so, Wahnsinn war die Antwort. Seine, wenn er ihr glaubte, ihre, wenn er ihr nicht glaubte. »Dazu bin ich nicht bereit.«
    Er streckte die Hand aus und berührte die Notizbücher. Seine Fingerspitzen prickelten, seine Kopfhaut zog sich zusammen. Nervöse Spannung, sagte er sich, sonst nichts. Er hakte den Zeigefinger unter das Gummiband und zog das Päckchen zu sich.
    »Werden Sie mich aufhalten?«
    »Wollen Sie das denn?«
    »Ich möchte den Beweis, dass Sie es können.«
    »Ich kann Sie nicht mit den Notizbüchern von hier fortgehen lassen.«
    »Dann sollten Sie besser etwas dagegen tun. Jetzt gleich «
    »Glauben Sie nicht, dass ich das könnte, wenn ich wollte?«
    »Ich glaube gar nichts mehr.« Er hob das Bündel hoch und trat vom Schreibtisch zurück. »Nichts, was meine eigenen Sinne mir nicht beweisen.«
    »Die sind so trügerisch wie alle anderen Beweise.«
    »Aber etwas anderes habe ich nicht.« Er drehte sich um ging zur Tür, blieb dort stehen und schaute sich über die Schulter nach ihr um. »Also?«
    »Also was?«
    »Ich habe vor, mit diesen Notizbüchern fortzugehen, wissen Sie!«
    »Oh, ich weiß. Glauben Sie mir, ich weiß es.«
    Ihre Augen hielten für einen Moment seine fest, ließen nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie ihren Willen bekommen würde. Aber sie bewegte sich nicht, rührte sich nicht auf ihrem Stuhl. Erleichterung breitete sich in Harry aus. Ihre Zuversicht war die Zuversicht der Wahnsinnigen. Es musste so sein, denn anscheinend wollte sie nichts tun, um ihn aufzuhalten. Sie glaubte, sie brauche nichts zu tun.
    »Leben Sie wohl, Harry.«
    »Ich bringe diese Bücher zur Polizei«, sagte er und hielt triumphierend das Bündel hoch, als seine Befürchtungen schwanden. »Ich werde dafür sorgen, dass man nach Spuren Ihrer Anwesenheit in Davids Zimmer im Skyway sucht. Ein Fingerabdruck, ein Haar, eine Faser - irgendetwas wird es geben.«
    »Vermutlich haben Sie recht.«
    »Und dann wird man Sie holen.«
    »Zweifellos.«
    »Und Sie werden sich für das verantworten müssen, was Sie ihm angetan haben.«
    »Da bin ich sicher.«
    »Verstehen Sie?«
    »Vollkommen.«
    Sie sah ihn mit einem seltsamen, mitfühlenden und seelenvollen Blick an, der ihn tiefer berührte, als er zugeben wollte. Sie schien ihn sogar noch zum Gehen zu drängen, als sie ihn zurückrief. Noch immer rührte sie sich nicht.
    »Leben Sie wohl, Harry.«
    »Gehen Sie zum Teufel!« Er riss sich von ihrem Blick los und stürmte durch die Tür. Er nahm wahr, wie der Stoff seiner Kleidung knisterte, wie seine Haut prickelte. Doch noch während diese Empfindungen sein Bewusstsein erreichten, errichtete seine Vernunft ihre Abwehrmechanismen. Achte nicht darauf, sagte sie. Geh einfach, solange du noch kannst.
    Ein statischer Funke sprang aus seinen Fingern, als er nach der Klinke der Haustür griff und sie aufriss. Dann war er draußen, schritt durch die klare Kälte auf das Tor zu, vertraute seinem eigenen Urteil, wagte aber nicht, sich umzuschauen. Als er den Bürgersteig jenseits des Tors erreichte, wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich geglaubt hatte, sie sei imstande, ihn aufzuhalten. Aber so war es nicht. Athene Tilson hatte die ganze Zeit geblufft, er hatte sie dazu herausgefordert.

63. Kapitel
    Das Leben hatte Harry oft verblüfft, aber nie mehr als jetzt. Er saß in einer Nische im hinteren Teil des Lord Nelson, als sich an der Bar langsam der frühe Mittagsbetrieb bemerkbar machte, und starrte auf sein halb ausgetrunkenes Glas Adnam's Broadside und die sechs von einem Gummiband zusammengehaltenen Notizbücher, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Dann zündete er sich eine Zigarette an, sah zu, wie der erste Rauch