Die Zauberlehrlinge
der Tragödie. Warum also Iris' Seelenqualen vergrößern, indem er überarbeiteten Ärzten zusetzte und entschwundene Freunde aufspürte? Warum nicht einfach akzeptieren, was alle anderen bereits erkannt hatten und Iris bald erkennen würde: dass man David sterben lassen musste?
Natürlich wegen allem, was Harry versäumt hatte: die schlaflosen Nächte und die Tage voller gemeinsamer Spiele, das strahlende Baby, das schmollende Krabbelkind, der heranwachsende Junge und der erwachsene Mann, sein Streben und seine Leistungen, seine Launen und das, was ihn ehrte. Alles, was ihn ausmachte, einschließlich seiner Fehler, kurz, das Leben von David John Venning. Die dreiunddreißig Jahre, die er und Harry gemeinsam auf diesem Planeten verbracht hatten, ohne sich zu kennen. Die Bindung, die nie zerbrochen war, weil sie niemals bestanden hatte. Es war eine harte Lektion und eine noch härtere Strafe. Einmal zuvor in seinem Leben hatte er zu sich selbst gesagt: »Das ist das Schlimmste, Harry, schlimmer kann es nicht werden.« Aber das hatte nicht gestimmt, weil dieser Moment ihn noch erwartet hatte.
Ein Lieferwagen fuhr vor. Ein lockiger Mann in Jeans und kariertem Hemd kletterte heraus und begann zu tanken. Dahinter kam ein dunkelgrüner Jaguar herein. Harry war auf traurige Weise dankbar für den Strom von Kundschaft. Jede Unterbrechung seiner Einsamkeit, wie kurz auch immer, war ihm willkommen. Doch der Jaguar fuhr an den Zapfsäulen vorbei und hielt bei den Luftpumpen. Typisch! Sie kauften nicht einmal eine Tüte Milch, von Benzin ganz zu schweigen. Dann erkannte er, wer auf dem Beifahrersitz saß und ihn durch die vom Nieselregen benetzte Scheibe ansah: Iris. Ihr Gesicht war grau und ausdruckslos, ihr Blick auf ihn gerichtet, ohne dass sie ihn zu sehen schien. Sie sah müde und ausgelaugt aus, als sei sie an irgendeiner unmarkierten Grenze des Erträglichen angelangt.
Die Fahrertür wurde zugeschlagen. Ein großer, stämmiger Mann in Tweedjacke und Gabardinehosen ging um den Wagen herum und kam auf den Laden zu. Er hatte dunkles, glattes Haar, das auf altmodische Weise mit Frisiercreme zurückgekämmt war. Sein Gesicht war kräftig und gerötet, die Wangen zitterten bei seinen energischen Schritten, die kleinen Augen blickten gespannt und richteten sich beim Gehen auf Harry. Ken Hewitt war genau das, was Harry befürchtet hatte: zäh, unbarmherzig und gewohnt, seinen Willen zu bekommen. Harry war diesem Typ nur zu oft begegnet. Häufiger, dachte er manchmal, als er verdiente. Schon jetzt stand fest, dass die Begegnung unangenehm werden würde.
»Harry Barnett?« Die Worte waren schon aus Hewitts Mund, bevor die Tür hinter ihm zugefallen war.
»Ja. Sie müssen Ken Hewitt sein.«
»Richtig.« Er marschierte an die Theke und schien bis zum letzten Moment im Zweifel, ob er Harry dahinter hervorholen sollte. Doch sie spürten beide, dass Iris sie durch das Fenster aufmerksam beobachtete. Die einzige Kraft, die zu benutzen sie sich erlauben konnten, war die der Persönlichkeit. In dieser Hinsicht zog Harry von vornherein den kürzeren. »Ich habe beschlossen, Ihrer Einmischung in die Angelegenheiten meiner Frau ein Ende zu machen.«
»Ich mische mich nicht ein.«
»Hope hat uns von Ihrem Besuch erzählt. Nennen Sie es nicht Einmischung, wenn Sie sich als nicht existierender Verwandter ausgeben?«
»Ich bin ein Verwandter.«
»Juristisch nicht, praktisch nicht, und für mich auch nicht.«
»Eine Meinung, die Sie Iris zweifellos aufzwingen wollen.«
»Sie sind derjenige, der sich aufdrängt, Barnett. Und das wird aufhören.«
»Ich glaube nicht, dass Sie das zu bestimmen haben. Wenn Sie Claude wären, dann vielleicht. Aber Claude ist tot. Ich denke, damit bin ich für David noch am ehesten so etwas wie ein Vater.«
»Sie denken ? Ich werde Ihnen sagen, was ich denke...« Er verstummte, als der Mann aus dem Lieferwagen hereinkam und zu den Warenregalen ging. Dann fuhr er mit leiserer Stimme und über die Theke gebeugt fort: »Ich liebe Iris. Ich respektiere sie. Sie haben vermutlich keines von beiden getan, sonst hätte sie Sie nicht von sich ferngehalten. Lassen Sie sie in Ruhe.«
»Ich versuche doch nur...«
»Sich wichtig zu machen und Iris einzureden, dass Sie eine Rolle spielen. Aber das tun Sie nicht. Sie haben es nie getan und werden es nie tun. Sie sind bloß ein Fehler, den Iris vor zu langer Zeit gemacht hat, als dass er es wert wäre, sich überhaupt daran zu erinnern.«
»Und wo bleibt David bei all
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