Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
konnten nichts sehen und erkannten nur, dass Eleanor vollkommen erstarrt hinaussah.
„Was ist dort?“, flüsterten einige, doch sie erhielten keine Antwort. Dann, nach einer kleinen Ewigkeit wie es schien, atmete Eleanor tief durch und trat wieder zurück in den Schutz der Höhle. Alles sah sie gebannt an.
„Wir gehen dort mitten hindurch“, sagte sie mit zitternder Stimme.
„Wir können nicht hindurch…“, begann John sanft. In diesem Moment klang er, als spräche er beruhigend auf ein Kind ein.
„Dann gehen wir am Rand entlang!“, fauchte Eleanor ihn unerwartet bissig an. „Wir sind nur deinetwegen hier und eine andere Möglichkeit gibt es nicht!“
John biss sich auf die Lippen, doch er wagte nicht ihr zu widersprechen. Was sie sagte, war wahr – nur seinetwegen war die ganz Gruppe jetzt hier. Von nun an würde er keinen Versuch mehr machen, Eleanor von ihren Entscheidungen abzubringen. Da sie die einzige war, die vor den Mächten dieser Welt offenbar nichts zu befürchten hatte, konnte nur sie den Weg der Gruppe vorgeben.
„Wie sie wünschen, Mylady“, sagte er leise und verbeugte sich leicht.
Noch einmal atmete Eleanor tief durch. „Bleibt zusammen und erschreckt nicht“, sagte sie. „Man kann den Ausgang von hier sehen, aber es sind trotzdem mindestens zweihundert Meter von hier aus!“
Die Menschen sahen einander verunsichert an, doch sie nahmen sich eilig bei den Händen. William blieb wie übrig direkt an Eleanor dran, dann setzte sich die Gruppe in Bewegung.
Wieder blieb Eleanor direkt an der rechten Höhlenwand, dann trat sie nach draußen und zog die anderen mit sich. Ihnen allen stockte der Atem von dem Anblick, der sich ihnen bot. Sie standen auf einem schmalen Felsensims, welches sich am Rande eines riesigen runden Lochs befand. Unter ihnen fielen die Felswände vollkommen senkrecht hinab, während sie über ihnen ebenso steil aufstiegen. Das gesamte Felsenrund mochte vielleicht hundert Meter im Durchmesser sein. Weit über ihren Köpfen, vielleicht in fünfzig oder sechzig Meter Höhe musste der Felsenkessel ein Ende haben. Dort sahen sie unablässig geflügelte Akoloythoi unterhalb einer gewaltigen Felskuppel umherfliegen. Auch flügellose Dämonen standen dort am Rande der oberen Felsenklippe und unablässig warfen und stießen sie Menschen in die Finsternis hinab. Das Geschrei der fallenden Menschen war markerschütternd. Immer wieder fielen ganze Gruppen zappelnder Menschen ganz dicht vor Eleanor und ihren Begleitern vorbei in die Tiefen des Lochs. Und dort unten, wo Licht und Schatten sich vermischten und die Finsternis im Kampf gegen das Licht den Sieg davontrug, dort befand sich ein riesiger Wirbel aus Dunkelheit und Kälte, der alles Leben auslöschte.
Eleanor fröstelte. So hatte sie sich immer ein schwarzes Loch in den Tiefen des Weltalls vorgestellt.
„Seid leise!“, flüsterte sie. „Sonst hören die da oben uns!“
Sie wies mit ängstlichem Blick nach oben, wo gerade eben einige Akoloythoi eine Gruppe von mindestens hundert Menschen an die Klippe trieb. Unmittelbar darauf regnete es auch schon schreiende Menschen, von denen nicht wenige kaum einige Dutzend Meter an ihnen vorbei hinab fielen. Ihre vom Schreien verzerrten Gesichter brannten sich tief in Eleanors Seele und rissen grausame Wunden. Fast schien es, als fielen sie in Zeitlupe an ihnen vorbei, als sei selbst die Zeit durch das Grauen an diesem Ort in ihrem Fluss gehemmt und stünde fassungslos vor so viel Entsetzen. Das Gesicht eines Mannes, der noch im Fallen ihren Blick auffing und als letzte Tat in diesem Leben voll Angst zu ihr hinübersah und seine Hand nach ihr ausstreckte, ließ Eleanor schließlich wie erstarrt stehenbleiben. Unsanft wurde sie von den hinter ihr gehenden Menschen vorwärts geschubst.
Langsam, viel zu langsam wie es schien, arbeiteten sie sich nun den schmalen Felsvorsprung entlang, der offenbar um das gesamte Felsenloch herum zur anderen Seite führte. Und dort konnten sie tatsächlich einen anderen Höhleneingang sehen, der sie von hier fortbringen würde.
Mehrmals wäre es fast zur Katastrophe gekommen, als unglückliche Opfer der Akoloythoi so nah an ihnen vorbeifielen, dass sie fast von ihnen mit in die Tiefe gerissen worden wären. Auch Eleanor hatte aufgeschrien, als einer der Unglücklichen wie aus dem Nichts plötzlich an ihr vorbeikam und seine Fingernägel sich in den Stoff ihrer Hose krallten. Allein seine enorme Fallgeschwindigkeit hatte verhindert, dass er
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