Die zehnte Kammer
mich schon die ganze Zeit darüber gewundert, was die Bilder der Pflanzen in Frater Barthomieus Buch zu bedeuten haben«, sagte Luc. »Sieht ganz so aus, als hätten wir es jetzt herausgefunden.«
Sie befanden sich in einem gemalten Garten, einem Paradies aus Bildern. Luc sah ein Gewirr von grünen Schlingpflanzen mit sternförmigen Blättern, staudenähnliche Pflanzen mit roten Beeren, und ein riesiges Feld voller hoch aufgeschossener Gräser. Jeder einzelne der sich im Wind wiegenden Halme war mit größter Liebe zum Detail dargestellt.
Mitten in dieser Savanne stand eine lebensgroße Version des Mannes mit dem Vogelkopf, den sie vorher schon bei der Wisentherde gesehen hatten. Mit kräftigen, schwarzen Linien gezeichnet, stand er breitbeinig im windbewegten Gras, den gewaltigen Penis voll erigiert und den Vogelschnabel weit aufgerissen, als stieße er gerade einen unhörbaren Schrei aus.
»Da ist er wieder, unser Held«, sagte Luc ruhig, während er die Kamera ans Auge hob.
Hugo wollte die Höhle nun schleunigst verlassen. Sie hatten sie vollständig erkundet und waren jetzt sowohl körperlich als auch geistig erschöpft. Von der schrecklichen Luft gar nicht zu reden. Luc konnte sich dennoch nicht von dem Anblick losreißen, der sich ihnen im letzten Höhlenraum bot. Er wiederholte ständig, wie großartig ihre Entdeckung doch sei. Die Darstellungen der Tiere seien in ihrer Lebendigkeit und Ausführung kaum zu überbieten, sagte er, aber Pflanzenbilder wie diese hier habe man in der gesamten paläolithischen Kunst bisher noch nicht gesehen.
Weil Luc mit seinen Begeisterungsausbrüchen gar nicht mehr aufhören wollte, wurde Hugo langsam ungeduldig. »Das hast du jetzt schon oft genug gesagt. Diese Höhle ist einfach umwerfend, aber ich würde sie jetzt doch gerne so schnell wie möglich verlassen. Ich habe keine Lust, mir hier den Tod zu holen.«
Luc blickte dem Vogelmann ins Auge und hätte am liebsten mit ihm gesprochen. Wegen Hugo führte er das Gespräch aber nur im Geiste: Ich komme bald zurück. Du und ich, wir werden uns noch richtig gut kennenlernen.
Luc schaute nach unten auf den Boden. Im Lichtkegel der Taschenlampe sah er plötzlich etwas, das ihm bisher entgangen war: Aus dem Boden nahe der Höhlenwand ragte ein schwarzglänzendes Stück Feuerstein hervor.
Luc ging davor in die Hocke und unterdrückte einen Fluch. Sein Spatel befand sich im Rucksack, den er in der vorigen Kammer hatte liegen lassen, deshalb zog er einen Plastikkugelschreiber aus der Brusttasche seines Hemds und begann mit seiner Spitze, den angetrockneten Fledermauskot rund um den Feuerstein zu lockern.
»Ich dachte, wir dürften hier nichts berühren«, beklagte sich Hugo.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin Archäologe und weiß, was ich tue«, erwiderte Luc.
In kurzer Zeit hatte er ein klingenförmiges Stück Feuerstein freigelegt, das doppelt so lang war wie sein Zeigefinger. Es stand an der Höhlenwand, als hätte es jemand absichtlich dort angelehnt. Luc beugte sich so tief über den Gegenstand, dass er ihn hätte küssen können, und pustete den Rest von Fledermausdreck weg. Dann stellte er seine Kamera auf Makromodus und machte ein paar Bilder.
»Was ist denn so Besonderes an diesem Ding?«, fragte Hugo.
»Das ist eine Aurignac-Klinge!«
»Was du nicht sagst«, erwiderte Hugo unbeeindruckt. »Können wir jetzt bitte gehen?«
»Nein, hör zu. Diese Klinge mit ihrer taillierten Mitte und einer ventral und einer dorsal retuschierten Längskante stammt aus dem Aurignacien, der ältesten Kultur des Jungpaläolithikums. Sie wurde vom allerersten Homo sapiens in Europa gefertigt. Wenn, und ich betone dies, wenn sie aus derselben Zeit stammt wie die Malereien, dann müssen sie vor zirka 30000 Jahren entstanden sein! Damit wären sie mehr als 10000 Jahre älter als die in Lascaux, obwohl sie technisch und künstlerisch viel fortgeschrittener sind! Ich kann das einfach nicht begreifen. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
Hugo zog Luc am Ärmel. »Das kannst du dir beim Frühstück überlegen. Und jetzt lass uns gehen, Herrgott noch mal!«
Die Morgensonne hatte die Vézère in eine hellglitzernde Wasserschleife verwandelt. Luc und Hugo genossen den Gesang der Vögel ebenso wie die herrlich frische Luft.
Beim Verlassen der Höhle hatte Luc die Steinwand wieder aufgeschichtet, hinter der sich ihr Eingang verbarg – so, wie es die ursprünglichen Erbauer der Wand getan hatten, wer immer sie auch gewesen sein
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