Die zehnte Kammer
verstehen?«
Luc streifte Handschuhe über und machte sich an die Arbeit. »Wie viele Schlüssel haben Sie für die Höhle?«, fragte Toucas.
»Zwei. Der eine war im Schreibtisch, und den anderen habe ich Pierre gegeben.«
»Schon wieder Pierre.«
Nach einer gründlichen Suche erklärte Luc, dass er den Extra-Schüssel nicht finden könne, und schlug vor, in der Höhle nach Pierre zu suchen.
»Gute Idee«, sagte der Colonel. »Machen wir das.«
Lieutenant Billeter saß hinterm Steuer des Polizeiwagens, Luc und Toucas hockten auf der Rückbank. Während der Fahrt bekam Toucas einen Anruf, bei dem er hauptsächlich zuhörte. Nachdem er aufgehört hatte zu telefonieren, wandte er sich an Luc. »Das war der Gerichtsmediziner«, sagte er. »Er hat bei den Spermaproben, die er den weiblichen Opfern entnommen hat, eine interessante Entdeckung gemacht.«
Luc wollte es lieber nicht hören, aber Rücksicht auf die Gefühle anderer war nun einmal nicht Toucas’ Stärke.
»Der Vergewaltiger hat sehr ungewöhnliche Spermien. Sie haben extrem kurze Geißeln. Keine tollen Schwimmer. Der Gerichtsmediziner hat den Fachbegriff ›immotil‹ verwendet. Möglicherweise ist das eine heiße Spur, die uns zum Täter führt.«
Luc sah auf einmal Marie und Elizabeth vor sich, und zum ersten Mal an diesem Tag traten ihm Tränen in die Augen.
Auf dem Parkplatz oberhalb der Höhle fiel ihnen gleich Pierres roter Wagen auf. Luc rannte sofort hin, aber Billeter warnte ihn, auf keinen Fall etwas zu berühren.
Sie spähten in den Wagen, aber er war leer.
Luc führte die Gendarmerieoffiziere die Leiter hinab und weiter zur Höhle. Als er sah, dass das Tor weit offen stand, stieß er hervor: »Da war jemand drinnen!«
Billeter griff zum Funkgerät und forderte Verstärkung an.
»Gehen Sie bitte mit uns rein, Professor«, sagte Toucas und öffnete das Lederholster an seinem Gürtel.
Die Schachteln mit den Überschuhen standen immer noch am Eingang der Höhle. Luc betätigte den Hauptschalter, der überall in der Höhle das Licht angehen ließ.
»Wir sollten Schutzkleidung anziehen«, murmelte Luc.
»Wovor müssen wir uns denn schützen?«, fragte Toucas.
»Nicht wir müssen geschützt werden, sondern die Höhle.«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, entschied der Colonel und stürmte ins Innere der Höhle. Er und Billeter musterten die Höhlenmalereien mit kritischen Blicken, als wären sie nur deshalb da, um die Ermittlungen an einem Tatort zu behindern. Luc ging von einer Kammer zur nächsten und hielt dabei vor lauter Angst, jemand könnte die Wände mit Graffitis oder durch einen anderen Akt des Vandalismus verunstaltet haben, den Atem an. Jemand, der unschuldige Menschen tötete und vergewaltigte, war mit Sicherheit auch zu so etwas fähig.
»Was haben diese Zahlen zu bedeuten?«, fragte Toucas, während er auf eine an der Höhlenwand angebrachte Tafel mit der römischen Zahl III deutete.
»Diese Höhle hat zehn Kammern. Das hier ist die dritte, die Kammer des Rotwilds.«
»Welche Kammer ist die wichtigste?«
»Wichtig sind sie alle. Aber wenn ich mich für eine entscheiden müsste, würde ich sagen: die zehnte.«
»Warum?«
»Das werden Sie sehen.«
Als sie die neunte Kammer erreicht hatten, war Luc erleichtert, weil bis dahin alle Kunstwerke unberührt geblieben waren. Nun krochen sie auf allen vieren durch den Tunnel in das Gewölbe der Hände vor der zehnten Kammer, und als sie sich dort aufrichteten, sah Luc sofort, wie aus der zehnten Kammer einer von Pierres langen Armen herausragte.
»Nein!«, schrie er und rannte zu ihm. Pierre lag mit dem Gesicht nach unten auf den Bodenmatten, sein Körper war so kalt wie die Luft in der Höhle. Trotzdem fühlte Billeter nach Pierres Puls und stellte dabei fest, dass die Totenstarre bereits eingesetzt hatte.
»Durchsuchen Sie ihn!«, befahl Toucas. Billeter streifte sich Latexhandschuhe über und tat, was von ihm verlangt wurde, während Luc in die Hocke ging und die albtraumartige Szene betrachtete.
Ein weiterer Mitarbeiter tot. Hier, an diesem mystischen Ort zu Füßen des Vogelmannes. Luc glaubte, noch einmal Abt Menauds Worte zu hören: »Sie sind alle tot.« Billeter sagte etwas, das Luc nicht verstand. Er bat ihn, es zu wiederholen. »Ich habe gesagt, dass er einen Schlüssel in seiner Tasche hat. Ist das der Originalschlüssel zur Höhle oder der Nachschlüssel?«
»Der Originalschlüssel. Das ist mein Schlüsselbund.«
Billeter deutete auf den Toten.
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