Die zehnte Kammer
Hand.
Er bat sie um einen Schluck Wasser. »Dieses Zeug, das ihr mir geschickt habt, hat es wirklich in sich. Es hat unsere Bildschirme aufleuchten lassen wie die Weihnachtsbäume.«
»Was war denn drin?«, fragte Sara.
»Wo soll ich bloß anfangen? Hattest du wirklich keine Ahnung, dass euer Aufguss randvoll mit Mutterkornalkaloiden steckte?«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Sara und sagte zu Luc, der sie verwirrt ansah und ganz offensichtlich nicht wusste, wovon Fred sprach: »Das sind psychoaktive Verbindungen. Eine Art natürliches LSD. Aber wie kommt denn Mutterkorn in unseren Sud? Ich habe dir doch die Liste der Pflanzen mitgeschickt, Fred, was –« Sie hielt abrupt inne, weil es ihr plötzlich klarwurde. »Claviceps purpurea!«, platzte sie heraus.
»Ganz genau!«, sagte Fred.
Wieder musste Sara Luc das erst umständlich erklären. »Das ist ein Pilz, der Zucht-oder Wildgetreide befällt. Vermutlich war das auch bei unserer Wildgerste der Fall. Dieser Pilz bringt das sogenannte Mutterkorn hervor, das starke Halluzinationen auslösen kann. Die Azteken haben Pflanzensamen gekaut, die natürliche Mutterkornalkaloide enthielten, und sind so mit ihren Göttern in Verbindung getreten, und im Mittelalter sind Zehntausende Europäer an kontaminiertem Getreide gestorben. Mutterkorn ruft nämlich nicht nur Halluzinationen, sondern auch Durchblutungsstörungen und Darmkrämpfe hervor und kann in hoher Konzentration zum Tod führen. Heute wird es in den großen Mühlenbetrieben zuverlässig ausgesiebt und ist eigentlich nur noch im Futtergetreide hin und wieder ein Problem. Ich habe mal eine Arbeit darüber geschrieben.«
»Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass die Alkaloide vom Claviceps stammen«, sagte Fred aufgeregt und schien für einen Augenblick zu vergessen, was passiert war. »Es waren hauptsächlich Agroclavin und Elymoclavin.«
Sara nickte wissend. »Hast du sonst noch was gefunden?«
»Und ob. Die Mutterkornalkaloide waren nur der Anfang. Warte, bis du den Rest gehört hast!«
Lucs Handy klingelte. Als er es aufklappte, sagte eine Schwester im Vorbeigehen, das Benutzen von Mobiltelefonen im Krankenhaus sei verboten.
Luc entschuldigte sich und humpelte zum Ausgang der Notaufnahme. »Hallo?«
»Spreche ich mit Professor Simard?«
»Ja, wer ist bitte dran?«
»Abt Menaud, aus Ruac. Ich muss mit Ihnen reden.«
»Einen Augenblick bitte. Lassen Sie mich erst ins Freie gehen.«
Kurz vor dem Ausgang kamen Luc zwei kräftige Kerle entgegen, beide breit wie Kleiderschränke. Luc glaubte, dass der eine von ihnen im Vorbeigehen »Oui« sagte, was in einem englischen Krankenhaus doch eher ungewöhnlich war. Einer der Männer trug ein Sweatshirt, der andere eine gefütterte Jacke. Beide wirkten angespannt. Als Luc sie ansah, hatte er das Gefühl, dass sie absichtlich wegschauten, aber dann stand er auch schon draußen vor der Tür.
Im Hof der Notaufnahme drängten sich Krankenwagen, Polizeifahrzeuge und mit Satellitenantennen ausgestattete Kleinbusse mehrerer Fernsehanstalten. Luc musste eine Weile suchen, bis er einen halbwegs stillen Fleck gefunden hatte.
»Was kann ich für Sie tun, Dom Menaud?«
Die Verbindung war schlecht, sodass Luc nicht sicher war, ob er alles richtig verstand, was der Abt sagte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das schonend beibringen soll, aber sie sind alle tot.«
Luc war wie vor den Kopf gestoßen. »Wie meinen Sie das? Wer ist tot?«
»Ihre Leute, die noch im Camp waren. Das ist eine furchtbare Tragödie. Bitte, Herr Professor, kommen Sie so schnell Sie können her!«
ZWEIUNDZWANZIG
Montag
Luc ließ die völlig perplexe Sara im Krankenhaus zurück, nachdem er sie lediglich darüber informiert hatte, dass es in Frankreich einen Unfall gegeben habe.
Wahrscheinlich war es falsch, einfach so abrupt aus Cambridge zu verschwinden, aber er musste unbedingt so schnell wie möglich wieder auf die andere Seite des Ärmelkanals. Er verließ das Krankenhaus, hielt ein Taxi an und handelte mit dem Fahrer aus, dass er ihn für das Geld, das Luc noch in der Brieftasche hatte, direkt zum Flughafen Heathrow fuhr. Luc dachte gar nicht daran, seine Tasche aus dem Hotel zu holen, und telefonierte so lange herum, bis der Akku seines Handys leer war. Danach saß er still im Taxi und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Von der Rückreise bekam er kaum etwas mit, es war eine Fahrt in die Hölle.
Die Hölle war mit gelbem Polizeiband abgesperrt, und überall auf dem Gelände
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