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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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ich sie schon länger nicht gesehen habe. Wissen Sie vielleicht, wo sie ist?«
    »Nein, ich bin auch deshalb hier.«
    »Sie sind Franzose, nicht wahr?«, fragte sie.
    »Ja, stimmt.«
    Sie machte ein Gesicht wie ein Rotkehlchen, das gerade dabei ist, einen Wurm aus der Erde zu ziehen. »Sie sind doch wohl nicht dieser Luc?«
     
    Victoria nahm Luc mit hinauf in ihre Wohnung, gab ihm ein Handtuch zum Abtrocknen und machte einen Tee. Sie war freie Journalistin und arbeitete viel zu Hause. Sara und sie hatten sich gleich nach Saras Einzug angefreundet.
    Wenn Sara da war, aßen sie oft miteinander in einer ihrer Wohnungen oder gingen ins Curry House um die Ecke. Während Sara bei der Grabung gewesen war, hatten sie einander sporadisch über E-Mail und SMS geschrieben, weshalb Victoria über Luc bestens Bescheid zu wissen schien. Sie musterte ihn mit wissenden Blicken und machte ein Gesicht, als verstünde sie jetzt, um wen Sara diesen ganzen Wirbel veranstaltet hatte.
    »Samstagabend hat sie mir aus Frankreich noch eine SMS geschrieben«, erklärte sie, während sie den Tee einschenkte. »Sie wollte am Montag zurück in London sein, und jetzt haben wir schon Mittwoch. Als ich im Fernsehen gesehen habe, was in Ruac passiert ist, hab ich große Angst um sie bekommen, aber ich konnte nirgendwo in Erfahrung bringen, ob Sara unter den Opfern ist. Bitte sagen Sie mir, dass ihr nichts passiert ist.«
    »Sara war nicht in Ruac, als das geschah, Gott sei Dank«, erklärte Luc. »Sie war mit mir in Cambridge. Wir haben gerade einen Freund von ihr im Krankenhaus besucht, als ich von der Tragödie erfuhr. Ich bin sofort nach Frankreich geflogen und habe sie in Cambridge zurückgelassen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
    »Großer Gott!«, rief Victoria und machte ein erschrockenes Gesicht.
    »Halten Sie es für möglich, dass sie hierher zurückgekommen ist, ohne dass Sie es bemerkt haben?«
    Victoria musste zugeben, dass das durchaus möglich war, und erbot sich, in Saras Wohnung nachzusehen. Sara hatte ihr einen Schlüssel gegeben.
    Obwohl Saras Wohnung denselben Grundriss hatte wie die ihrer Nachbarin, war sie doch ganz anders eingerichtet. Während bei Victoria graue, alte Polstermöbel herumstanden, dominierten in Saras hübschdekorierter Wohnung frische Farben. Luc erinnerte sie stark an Saras alte Wohnung in Paris, in der er damals sooft gewesen war. Auf dem roten Sofa hatten sie viele Nächte verbracht, und die pfauenblaue Decke gab es ebenfalls noch.
    Victoria sah sich rasch um und verkündete: »Nein, sie ist nicht wieder hier gewesen, da bin ich mir sicher.«
    Luc erinnerte sich, dass er in seiner Brieftasche noch die Karte des ermittelnden Beamten in Cambridge hatte.
    »Ich werde die Polizei anrufen.«

SECHSUNDZWANZIG
    Donnerstagvormittag
    Im kalten Licht der herbstlichen Morgensonne sah Paris wie frisch gewaschen aus. Luc fuhr in einem Taxi auf dem Boulevard Périphérique nach Osten. Die Viertel wurden immer schäbiger, bis sie die Vorstadt Montreuil erreichten. Hier konnte man den Eiffelturm nur noch als weitentfernten, dünnen Strich am westlichen Horizont erkennen.
    Vom Boulevard Rouget de Lisle fuhren sie durch Straßen, in denen es ebenso viele farbige Menschen gab wie weiße. Das Ziel war eine alte katholische Kirche mitten in einem engen Wohnviertel. Vor der Kirche waren fast nur noch Schwarze zu sehen.
    Obwohl Luc Pierres Vater nie persönlich kennengelernt hatte, eilte Philippe Berewa sofort die Treppe hinab, kaum dass Luc aus dem Taxi gestiegen war.
    Die beiden Männer umarmten sich spontan. Luc war wahrlich kein kleiner Mann, aber Philippe war noch einmal einen guten Kopf größer als er und hatte einen ebenso athletischen Körperbau wie sein Sohn. Er hatte Falten und trug einen altmodischen, dreiteiligen Anzug mit einer goldenen Uhrkette. Luc wusste, dass er in Sierra Leone Arzt gewesen war, in Frankreich aber nie eine Zulassung erhalten hatte. Aus diesem Grund hatte er einen seinen Fähigkeiten eigentlich nicht angemessenen Job als Krankenhaustechniker annehmen müssen.
    Phillipe führte Luc durch die bis auf den letzten Platz gefüllte Kirche zur vordersten Bank, wo man ihm einen Ehrenplatz freigehalten hatte. Er saß direkt neben Pierres Mutter, einer dicken Frau in schwarzem Kleid, die einen kleinen Hut auf dem Kopf trug und unverhohlen weinte.
    Während des Requiems konnte Luc nicht anders, er musste diese Trauerfeier ständig mit der von Jeremy vergleichen. Die Menschen hier zeigten

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