Die Zeit: auf Gegenkurs
Peralta-Krankenhaus berührte sie ihn weiter, als ob sie ihn niemals wieder loslassen wollte. Schließlich ergriff er ihre Hand, drückte sie. »Kopf hoch«, sagte er. »Du brauchst nie mehr hinzugehen.«
»Vielleicht doch«, erwiderte sie. »Vielleicht wird es Seb von mir verlangen.«
»Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren«, knurrte Tinbane.
»Ich möchte, daß du ihm das sagst«, bat Lotta. »Ich möchte, daß du mit ihm redest. Du hast mit diesen Löschern und Mrs. McGuire geredet und sie gezwungen, deine Befehle zu befolgen. Niemand sonst hat sich je für mich so eingesetzt. Nicht in meinem ganzen Leben. Nicht so wie du.«
Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. Sie schien jetzt sehr glücklich zu sein. Und erleichtert. Mein Gott, dachte er, sie hat etwas Großes vollbracht, etwas viel Größeres als ich; sie hat ihre Abhängigkeit von Sebastian Hermes auf mich übertragen. Wegen eines einzigen Vorfalls.
Ich habe sie, erkannte er. Ich habe sie ihm endgültig abgenommen; ich habe es geschafft!
10. K APITEL
Demzufolge hat Gott, nicht aus sieh selbst heraus, sondern als Ursache aller Dinge, drei Eigenschaften: Er ist. Er ist weise und Er lebt.
– Eriugena
Im Vitarium Flasche des Hermes klingelte das Vidfon; Sebastian, der Joe Tinbanes Rückruf erwartete, nahm ab.
Auf dem Bildschirm tauchte Lottas und nicht Tinbanes Gesicht auf. »Wie geht es dir?« fragte sie matt, mit einer sonderbaren, mechanischen Teilnahmslosigkeit, die er nie zuvor in ihrer Stimme bemerkt hatte.
»Gut«, sagte er, maßlos erleichtert, sie zu sehen. »Aber das ist nicht wichtig; wie geht es dir? Hat er dich aus der Bibliothek herausgeholt? Offenbar hat er es geschafft. Hat man wirklich versucht, dich dort festzuhalten?«
»Ja, man hat es versucht«, sagte sie noch immer teilnahmslos. »Was ist mit dem Anarchen?« fragte sie. »Ist er inzwischen ins Leben zurückgekehrt?«
Sebastian wollte sagen: Wir haben ihn ausgegraben. Wir haben ihn wiederbelebt. Aber er schwieg; er dachte an den Anruf aus Italien. »Mit wem hast du alles über den Anarchen gesprochen?« fragte er. »Ich will genau wissen, wer eingeweiht ist.«
»Es tut mir leid, daß du böse auf mich bist«, sagte Lotta; ihre Stimme klang nach wie vor teilnahmslos, als würde sie die Worte von einem Blatt Papier ablesen. »Ich habe es Joe Tinbane und Mr. Appleford von der Bibliothek erzählt, und sonst niemand. Ich rufe an, um dir zu sagen, daß es mir gut geht; ich bin aus der Bibliothek entkommen … Joe Tinbane hat mich herausgeholt. Wir sind im Krankenhaus; eine Kugel muß aus seinem Fuß entfernt werden. Es ist nichts Ernstes, aber er sagt, daß er Schmerzen hat. Und zweifellos wird er ein paar Wochen im Bett liegen müssen. Sebastian?«
»Ja?« Er fragte sich, ob sie, wie Tinbane, verletzt worden war; innerlich aufgewühlt, spürte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte; er machte sich wieder Sorgen – und mehr als zuvor. In ihrer Stimme lag etwas Unheilverkündendes. »Sag es mir!« bat er drängend.
»Sebastian«, sagte Lotta, »du bist nicht gekommen, um mich zu befreien. Selbst dann nicht, als ich nicht wie verabredet im Institut erschienen bin. Du mußt zu beschäftigt gewesen sein; ich nehme an, du mußtest dich um den Anarchen kümmern.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen; wie gewöhnlich machte sie sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen; sie weinte still wie ein kleines Kind. Ohne ihr Gesicht abzuwenden.
»Gottverdammt«, stieß er wütend hervor. »Was ist los?«
»Ich kann nicht«, schluchzte sie.
»Was kannst du nicht? Kannst du es mir nicht sagen? Ich komme ins Krankenhaus; welches Krankenhaus ist es? Wo bist du, Lotta? Gottverdammt, hör auf zu weinen und sag es mir.«
»Liebst du mich?«
»Ja!«
»Ich liebe dich auch, Seb«, sagte Lotta. »Aber ich muß dich verlassen. Zumindest für eine Weile. Bis ich mich wieder besser fühle.«
»Mich verlassen? Wo willst du hin?« fragte er.
Sie weinte nicht mehr; in ihren feuchten Augen war ein ungewöhnlich trotziger Ausdruck. »Das werde ich dir nicht sagen. Ich schreibe dir; ich werde mir genau überlegen, wie ich es dir am besten erklären kann, und dir alles in einem Brief schreiben.« Sie fügte hinzu: »Am Vidfon kann ich nicht reden; ich komme mir dabei so beobachtet vor. Hallo.«
»Oh, mein Gott«, sagte er ungläubig.
»Hallo, Sebastian«, verabschiedete sich Lotta und legte auf; ihr erschöpftes schmales Gesicht verschwand vom Bildschirm.
R. C. Buckley
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