Die Zeit: auf Gegenkurs
tauchte neben Sebastian auf und brummte im entschuldigenden Tonfall: »Tut mir leid, daß ich Sie in so einem Moment stören muß, aber jemand will Sie sprechen. Vorn an der Tür.«
»Wir haben geschlossen!« fauchte Sebastian.
»Es ist eine Kundin. Sie haben gesagt, wir sollen nie einen
Kunden abweisen, auch nach sechs Uhr nicht. Das ist Ihre Philosophie.«
»Wenn es eine Kundin ist, kümmern Sie sich um sie«, sagte Sebastian. »Sie sind unser Verkäufer.«
»Sie hat nach Ihnen gefragt; sie will nur mit Ihnen sprechen.«
»Ich könnte mich umbringen«, stieß Sebastian hervor. »In der Bibliothek muß etwas Furchtbares passiert sein; wahrscheinlich werde ich nie erfahren, was es war – sie wird es nie in Worte fassen können.« Lotta hatte schon immer Schwierigkeiten, mit Worten umzugehen, dachte er. Zu viele, zu wenige, die falschen oder zur falschen Person; immer kam es auf die eine oder andere Weise zu Mißverständnissen. »Wenn ich eine Waffe hätte«, sagte er, »würde ich mich umbringen.« Er zog sein Taschentuch heraus und schneuzte sich. »Sie haben gehört, was Lotta gesagt hat. Ich habe sie so sehr im Stich gelassen, daß sie mich verläßt. Wer ist die Kundin?«
»Sie sagt, sie heißt …« R. C. Buckley warf einen Blick auf seinen Notizzettel. »Miss Ann Fisher. Kennen Sie sie?«
»Nein.« Sebastian verließ den Bürotrakt und ging nach vorn in den Empfangsraum mit seinen nicht allzu modernen Sesseln, dem Teppichboden und den ausliegenden Zeitschriften. In einem der Sessel saß eine gutgekleidete junge Frau mit frech geschnittenen, modisch kurzen schwarzen Haaren. Er blieb stehen, riß sich zusammen und musterte sie. Das Mädchen hatte wundervolle schlanke Beine; er mußte sie einfach bewundern. Klasse, dachte er. Dieses Mädchen hatte wirklich Klasse; sie verriet sich selbst in der Wahl ihrer Ohrringe. Und in ihrem sehr dezenten Make-up; die leuchtenden Farbtöne ihrer Augen und Wimpern und Lippen schienen natürlichen Ursprungs zu sein. Er bemerkte, daß sie blaue Augen hatte, ungewöhnlich bei einem Mädchen mit schwarzen Haaren. »Auf Wiedersehen«, sagte sie und verzog die Lippen zu einem warmen Lächeln; sie hatte ein außerordentlich ausdrucksvolles Gesicht; wenn sie lächelte, leuchteten ihre Augen, und ein perfektes, ebenmäßiges Gebiß mit spitzbübisch wirkenden kleinen Schneidezähnen blitzte auf; ihre Zähne faszinierten ihn.
»Ich bin Sebastian Hermes«, stellte er sich vor.
Miss Fisher erhob sich und legte die Zeitschrift zur Seite. »Sie führen eine Mrs. Tilly M. Benton in Ihrem Katalog. In Ihrem neuesten Ergänzungsangebot.« Sie suchte in ihrer schicken, glänzenden Handtasche und zog die Anzeige heraus, die das Vitarium Flasche des Hermes in den Abendzeitungen aufgegeben hatte. Sie schien eine energische, selbstbewußte junge Dame zu sein … Ein völliger Gegensatz, drängte sich ihm der Gedanke auf, zu Lottas Unentschlossenheit, an die er sich über lange Zeit hinweg hatte gewöhnen müssen.
»Eigentlich«, sagte er, »haben wir für heute schon geschlossen. Mrs. Benton ist natürlich nicht hier; wir haben sie in ein Krankenhaus gebracht, wo man sich um sie kümmern kann. Wir würden uns freuen, Sie morgen zu ihr zu bringen. Sind Sie eine Verwandte?«
»Sie ist meine Großtante«, antwortete Ann Fisher mit einer Art philosophischer Verzweiflung, als müßte man ständig darauf vorbereitet sein, sich um wiedergeborene ältere Verwandte zu kümmern. »Oh, ich bin außerordentlich froh, daß Sie ihre Rufe gehört haben«, fuhr sie fort. »Wir haben den Friedhof immer wieder besucht, in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören, aber immer … « Sie verzog das Gesicht. »Es scheint immer zur unmöglichsten Zeit zu passieren.«
»Richtig«, stimmte er zu. Das war in der Tat ein Teil des Problems. Er sah auf die Uhr; es war in etwa Einlaufzeit; normalerweise hätte er sich jetzt auf den Weg nach Hause zu Lotta gemacht. Aber Lotta war nicht da. Und außerdem wollte er in der Nähe des Instituts bleiben, den Anarchen in diesen neuen, kritischen Stunden seines Lebens nicht aus den Augen lassen. »Ich glaube, ich könnte sie heute abend noch kurz in die Klinik bringen«, begann er, aber Miss Fisher unterbrach ihn.
»Oh, nein; danke, bemühen Sie sich nicht. Ich bin müde. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, und Sie auch.« Zu seiner Verblüffung streckte sie ihre schmale Hand aus und streichelte ihn sanft, während sie ihn in stillschweigendem Einverständnis anstrahlte, als
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