Die Zeit: auf Gegenkurs
Situation?«
»Ja«, nickte er.
»Er war so herzig.« Sie schürzte die Lippen, als wolle sie mit einem Baby schmusen, mütterlich. »Und er lag da in dieser Säuglingsstation, im Krankenhaus, und er suchte nach einem Mutterschoß, und ich hatte für die Stadtverwaltung von San Bernadino hier und da ehrenamtlich gearbeitet, und ich hatte sie wirklich satt, diese ehrenamtliche Arbeit, und ich dachte mir, wäre das nicht wundervoll, ein süßes kleines Geschöpf wie Arnold Oxnard Ford in meinem Bauch zu haben?« Sie klopfte auf ihren flachen Bauch, während sie ziellos weiterschlenderten. »Also ging ich zur Oberschwester der Säuglingsstation und fragte: Kann ich Arnold Oxnard Ford haben? Und sie sagte: Ja, Sie sehen gesund aus, und ich bestätigte es ihr, und sie sagte: Für ihn ist es jetzt Zeit; er braucht einen Mutterschoß – er war bereits im Brutkasten –, und ich unterschrieb die Papiere und …« Sie lächelte Sebastian an. »Ich bekam ihn. Neun Monate lang wurde er mit jedem Tag immer mehr ein Teil von mir; es ist ein herrliches Gefühl – Sie können es sich nicht vorstellen – wie es ist, ein anderes Geschöpf zu spüren, eins, das man liebt, wie es Molekül für Molekül mit den eigenen Molekülen ver schmilzt. Jeden Monat wurde ich untersucht und geröntgt, und es gab keine Komplikationen. Natürlich ist jetzt alles vorbei.«
»Man sieht es Ihnen jedenfalls nicht an«, stimmte er zu; ihr Leib war nicht mehr gewölbt.
Miss Fisher seufzte: »Jetzt ist Arnold Oxnard Ford ein Teil von mir, und er wird es immer sein, solange ich lebe. Ich stelle mir gern vor – viele Mütter denken so – daß die Seele des Babys noch immer hier ist.« Sie tippte an ihren schwarzen Pony, ihre Stirn. »Ich glaube, daß es stimmt; ich glaube, seine Seele ist dort hingewandert. Aber …« Erneut verzog sie wehmütig das Gesicht. »Wissen Sie was?«
»Ich weiß«, sagte er.
»Es ist wirklich so. Bis zum elften – der Arzt sagt, auf keinen Fall später – muß ich den letzten körperlichen Rest von ihm hergeben. An einen Mann.« Sie schnitt eine spöttische, aber nicht feindselig wirkende Grimasse. »Ob es mir nun gefällt oder nicht, ich muß mit einem Mann ins Bett gehen; es ist eine medizinische Notwendigkeit. Sonst ist der Prozeß nicht abgeschlossen, und ich werde meinen Schoß nie wieder anderen Babys anbieten können. Und – es ist seltsam; in den letzten beiden Wochen, sogar schon länger, ist es für mich wie ein Drang, ein biologischer Trieb. Mit einem Mann zu schlafen; mit irgendeinem Mann.« Sie sah ihn forschend an. »Oder schokkiert Sie das? Es war nicht meine Absicht.«
»Dann wird Arnold Oxnard Ford auch ein Teil von mir sein«, stellte Sebastian fest.
»Gefällt Ihnen der Gedanke? Ich hatte Bilder von ihm, aber natürlich haben die Löscher sie eingezogen. Es wäre ideal gewesen, wenn Sie ihn gekannt hätten; wären wir verheiratet, hätten sie ihn gekannt. Aber man hat mir gesagt, daß ich sehr gut im Bett bin, und vielleicht macht Ihnen dieser Teil allein Freude; würde das genügen?«
Er dachte nach. Wieder mußte jeder Schritt sorgfältig überlegt werden. Wie würde sich Lotta fühlen, wenn sie davon erfuhr? Würde sie es erfahren? Sollte sie es erfahren? Und es kam ihm seltsam vor, daß Miss Fisher ihn auf diese Weise auswählte, praktisch durch Zufall. Aber was sie sagte, stimmte; neun Monate, nachdem ein Baby in den Schoß eingekehrt war, wurde es bei der Mutter zu einem – Bedürfnis. Wie Miss Fisher sagte, es war eine biologische Notwendigkeit; die Zygote mußte sich in Samenzelle und Ei trennen.
»Wo könnten wir hingehen?« fragte er listig.
»In meine Wohnung«, bot sie an. »Sie ist hübsch, und Sie könnten die ganze Nacht bleiben; ich würde Sie hinterher nicht hinauswerfen.«
Wieder dachte er: Ich muß zurück ins Institut. Aber – diesmal war es reiner Zufall. Er brauchte dieses Erfolgserlebnis; eine Frau hatte ihn – wahrscheinlich zu recht – verlassen, und jetzt hatte eine andere ein Auge auf ihn geworfen. Er konnte nicht verhindern, daß er sich geschmeichelt fühlte.
»Einverstanden«, sagte er.
Ann Fisher winkte ein vorbeifliegendes Taxi heran, und einen Moment später waren sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung.
Sie war wunderschön eingerichtet; er schlenderte durch das Wohnzimmer, betrachtete hier eine Vase, dort einen Wandteppich, Bücher, eine kleine Jadefigur von Li Po. »Hübsch«, sagte er. Aber er war allein; Miss Fisher war ins Nebenzimmer geschlüpft, um
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