Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
die erste Pflicht des Christen, Gottes Lob zu singen und die Geburt seines Sohnes zu feiern!«, erklärte er würdevoll.
Beit verdrehte die Augen. »Wenn Sie jetzt drei Stunden warten müssen, haben Sie ja Zeit zum Beten!«, gab er spöttisch zurück. »Inzwischen sind die ganzen Amerikafahrer auch schon da und stehen Schlange – dabei hatte ich mit dem Arzt vereinbart, Sie bevorzugt abzufertigen. Das geht jetzt nicht mehr, die Leute würden einen Aufstand machen. Also gehen Sie, und stellen Sie sich an!«
Tatsächlich warteten bereits Hunderte von Menschen mehr oder weniger geduldig vor dem Lagerhaus am Pier, in dem der Mediziner seine Untersuchungen durchführte. Ida sah zum ersten Mal das Meer oder das, was sie dafür hielt. Später erfuhr sie, dass diese weite Wasserfläche nur die Elbmündung gewesen war. Besorgt starrte sie auf das trübe graue Wasser, auf dem Eisschollen schwammen, und auf die gewaltigen Segelschiffe, die auf ihre menschliche Fracht warteten. Ein »Amerikafahrer« sollte bald ablegen. Seine Passagiere standen vor Ida und ihrer Familie in der Schlange.
Es dauerte tatsächlich Stunden, bis die Langes abgefertigt waren. Als Ida und ihre Geschwister endlich so weit waren, dass sie das Haus betreten durften, waren sie bereits durchgefroren bis ins Mark – immerhin schneite es gerade nicht. Nun konnten sie den Arzt bei der Arbeit beobachten, man hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihm einen geschlossenen oder auch nur durch Vorhänge abgetrennten Bereich zur Verfügung zu stellen. Ida sorgte sich darüber zunächst – bei einer solchen Untersuchung mussten sich die Frauen doch gewiss frei machen! Ihre Sorge erwies sich jedoch als unbegründet. Die Untersuchung war äußerst flüchtig, der Mediziner ließ sich nur rasch die Zunge zeigen, maß den Patienten den Puls und ließ etliche Kinder die Köpfe senken, um sie auf Läusebefall zu kontrollieren.
Ida hätte sich zu Tode geschämt, hätte er das auch bei ihren Geschwistern getan, aber der Arzt hatte wohl schon einen Blick dafür, welche Familien verwahrlost und welche Kinder gut gepflegt waren. Bei Jakob Lange und seinem Anhang beschränkte er sich auf die Frage, ob jemand Husten oder eine andere ansteckende Krankheit habe. Außerdem schob er Elsbeths Kleiderärmel kurz hoch, um ihren Arm auf Rötungen oder Pusteln zu kontrollieren, die auf Masern oder andere Kinderkrankheiten schließen ließen.
Nach wenigen Minuten war die Untersuchung vorbei, alle Auswanderer aus Raben Steinfeld erfreuten sich nach Ansicht des Arztes bester Gesundheit.
»Morgen früh dann zur Passkontrolle!«, befahl John Nicholas Beit, der ihre Zeugnisse beim Logierhaus in Empfang nahm. »Der Zoll ist gleich neben dem Pier, könnt ihr nicht verfehlen. Aber nicht wieder erst in die Kirche rennen! Wir haben das um sieben Uhr für euch arrangiert, Leute! Ihr werdet privilegiert abgefertigt – verpasst mir das bloß nicht! Um drei Uhr geht das Schiff!«
Die Raben Steinfelder – einige etwas indigniert ob der herablassenden Art, mit der Beit sie behandelte – beschlossen daraufhin, noch einmal gemeinsam den Abendgottesdienst zu besuchen und Gott um eine gefahrlose Überfahrt zu bitten. Ida wäre eigentlich lieber im Logierhaus geblieben. Sie fror immer noch bitterlich, der Schlafsaal wurde nicht geheizt. Immerhin gab es eine warme Suppe. Ida wäre danach am liebsten gleich in ihr Bett gekrochen, doch sie konnte sich dem Kirchgang nicht entziehen. Und so sang sie inbrünstig Gottes Lob und hoffte, dass ihr dabei etwas wärmer wurde.
Karl Jensch war es wesentlich besser ergangen. Er hatte sich den morgendlichen Kirchgang geschenkt – fest entschlossen, alles genau so zu machen, wie das Merkblatt es vorsah. So war er bereits um halb acht vor dem Lagerhaus, in dem der Arzt untersuchte, und eine Minute nach acht wieder draußen. Er konnte Beit dann auch direkt sein Gesundheitszeugnis überreichen und war nur etwas enttäuscht, dass der Agent der New Zealand Company so gar nicht auf seine demütig vorgetragenen Dankesbezeugungen einging. Er schien sich an seinen Brief nicht erinnern zu können, aber so wichtige Männer hatten natürlich viel zu tun. Karl grüßte also nur noch ehrerbietig das rundliche Mädchen, das eben mit einer Liste zu Beit stieß, als er mit ihm fertig war, und machte sich dann auf in die Stadt. Bisher hatte er keine Zeit gehabt, sie zu erkunden, obwohl er bereits drei Tage da war.
Seine Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen, allerdings hatte er
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