Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
wirklich sehr viel gehen müssen. Nur selten hatte sich ein Wagen gefunden, der ihn ein Stück mitnahm. Der Fuhrmann, der den letzten Wagen gesteuert hatte, hatte allerdings einen guten Ratschlag für den jungen Mann gehabt: Am Hafen suchte man immer Arbeitswillige zum Be- und Entladen der Schiffe. Hier war Tag und Nacht Betrieb, und Karl, der ohnehin keine Unterkunft hatte – der Berechtigungsschein für das Logierhaus bezog sich nur auf zwei Nächte –, schuftete zwei Tage und eine Nacht durch, bevor er die Herberge bezog. Das brachte ihm ein erkleckliches Sümmchen ein – Reisegeld, mit dem er nicht gerechnet hatte. Im Logierhaus gab es obendrein drei kostenfreie Mahlzeiten, er brauchte also kein Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Karl konnte sich nicht erinnern, an irgendeinem Weihnachtsabend zuvor so satt und zufrieden gewesen zu sein, als er sich auf einer Pritsche am äußersten Ende des Schlafsaals ausgestreckt hatte. Der einzige Wermutstropfen war, dass er Ida nicht gesehen hatte. Er hatte gehofft, wenigstens von Weitem einen Blick auf sie werfen zu können. Die Wirtin erklärte ihm jedoch, Auswandererfamilien seien in einem anderen Logierhaus untergebracht. Sie selbst vermiete nur an alleinstehende junge Männer, kurzfristig an Auswanderer, aber auch längerfristig an Hafenarbeiter.
Während Ida dann für die ärztliche Untersuchung anstand, schlenderte Karl durch die Straßen von Hamburg und bewunderte die riesigen Speicherhäuser am Hafen, prunkvolle Bauten, in denen wohl die reichen Kaufmannsfamilien wohnten, und schließlich die Geschäftsstraßen. Hier fand sich eine Buchhandlung, und Karl entdeckte tatsächlich ein deutsch-englisches Wörterbuch! Genau genommen fand er gleich drei. Unsicher wandte er sich an den Verkäufer, der ihm ein kleines grünes Büchlein empfahl.
»Schauen Sie mal, hier sind nicht nur die Wörter aufgelistet, Deutsch-Englisch und Englisch-Deutsch, ganz hinten haben Sie auch noch ein paar Redewendungen …« Der Mann schlug das Büchlein auf und zeigte auf eine Liste wichtiger Sätze. »Guten Morgen – good morning «, las er vor.
So schwierig war das gar nicht, fand Karl, es klang fast wie Plattdeutsch! »Das ist gut, das nehme ich!«, rief er begeistert.
Karl sah zu, wie der Mann ihm das Wörterbuch einpackte, und fasste dann den Entschluss, ein paar weitere Pfennige zu opfern und nach einem Buch über Neuseeland zu fragen. Hier war die Auswahl nicht so groß, aber immerhin fand sich schließlich ein dünnes Werk, das sowohl Neuseeland als auch Australien gewidmet war. Karl entschied sich, es zu nehmen, als er gleich beim Aufschlagen die Zeichnung eines der neuseeländischen Einheimischen entdeckte. Maori sollten sie sich nennen – und vielleicht würde er bei der Lektüre ja etwas mehr über sie erfahren.
Hochzufrieden kehrte er zurück ins Logierhaus, freute sich am reichhaltigen Essen und ging dann früh schlafen. Da die Gaslampen noch brannten, bis die Wirtin sie um zehn löschte, nutzte Karl die Zeit zu ersten Studien. Noch beim Einschlafen murmelte er seine ersten englischen Wendungen.
»Good eve-ning, Ida! Glaad to seeh jo-u!«
Am nächsten Morgen fanden sich alle hundertdreiundfünfzig Passagiere der Sankt Pauli überpünktlich beim Zoll ein. Diesmal erhaschte Karl auch einen Blick auf Ida und ihre Familie. Die Raben Steinfelder standen alle dicht beieinander – Brandmann empörte sich eben wortreich darüber, wie unhöflich die Zöllner mit ihm umgesprungen waren. Offenbar hatten sie in seinen Truhen gewühlt, ihm Schmuggel und Betrug unterstellt …
»Ich sagte Ihnen doch, Sie möchten pünktlich hier sein und warten, bis ich komme!«, beschied Beit die verärgerten Auswanderer. »Wenn Sie zu früh sind, ist das ebenso wenig hilfreich wie Ihre gestrige Verspätung. Nun geben Sie mir Ihre Pässe, und dann warten Sie hier. Ich rufe einen nach dem anderen herein, und wir regeln das schnell.«
Mit John Nicholas Beits Vermittlung ging die Abfertigung tatsächlich mehr als zügig vonstatten. Der Agent ging mit einem Familienvater nach dem anderen zum Zoll, und gleich danach übernahm ein Angestellter des Handelshauses De Chapeaurouge die Truhen der Auswanderer. Sie wurden direkt aufs Schiff gebracht. Brandmann lamentierte, er lasse sein Hab und Gut äußerst ungern aus den Augen, aber darauf nahm niemand Rücksicht. Schließlich wies der junge Angestellte den Raben Steinfeldern den Weg zum Schiff. Karl kannte ihn schon. Er hatte sich die Sankt Pauli
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