Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Menez
Vom Netzwerk:
denn die Aufmerksamkeit der Umstehenden galt nun ganz dem Geschehen um Mutter Schwarzhaar Wangenfleck und der Knochenfrau. Unvermittelt ergriff die Alte den Lanzenstiel und riss an der Waffe, die im Schenkel der jammernden und vor Schmerz schreienden Frau steckte. Die sackte zusammen wie ein tödlich getroffenes Tier, als ihr die Knochenfrau die Lanze schließlich mit einem kräftigen Ruck aus dem Fleisch zog, und blieb reglos liegen. Fast gleichzeitig begann die Knochenfrau zu torkeln und drohte zu fallen; Feuerauge fing sie auf. Kurz darauf kehrte die gewohnte Haltung und Stimme der Alten zurück. Sie befahl den Männern etwas, worauf diese die Besinnungslose zum Feuer der Knochenfrau trugen.
    Rasch bereitete die Alte einen Sud zu, mit einer Zutat aus einem kleinen Beutel, den sie unter ihrem Gewand hervorholte.
    Als Mutter Schwarzhaar Wangenfleck aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte, schlug sie nach der Alten. Sofort packten Feuerauge und Lächelndes Spitzgesicht die Arme der zappelnden Frau, um sie zu bändigen. Gewaltsam machte sich die Knochenfrau daran, ihr etwas von dem Trank einzuflößen. Mutter Schwarzhaar Wangenfleck versuchte vergebens sich dagegen zu wehren. - Schließlich fing sie an zu stöhnen und zu klagen. Bald weinte sie so jämmerlich, daß ihr Rotz und Tränen übers Gesicht liefen. Feuerauge und Lächelndes Spitzgesicht sahen einander verstört und ratlos an. Andere Mitglieder des Stammes machten ebenfalls lange, ahnungslose Gesichter. Keiner schien den aufgelösten Zustand ihrer Stammesgenossin zu verstehen. Nur das kleine Mädchen weinte bitterlich. Sie drängte zu ihrer Mutter, aber ganz gleich, wie sehr sich Mutter Schwarzhaar Wangenflecks Tochter auch wand und schrie, zappelte und flehte, die kräftigen Hände der Frau hinter ihr hinderten sie daran.
    Die Medizin der Knochenfrau wirkte schnell. Mutter Schwarzhaar Wangenfleck sah mit verschleiertem Blick nach ihrer verzweifelten Tochter. Ein zartes Lächeln lag in dem Augenblick auf ihren Lippen, und sie stammelte noch irgendetwas, bevor sie die Augen schloß.
    Maramir sah sich um, schaute über Leinocka hinweg direkt in Kars starres Gesicht; ihrer Tat bewußt, stand sie schuldvoll abseits. Maramir glaubte zu erkennen, daß ihre Schwester vor Angst zitterte. In dem Moment hatte Maramir nur einen Gedanken: Flucht!
    Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zwischen den Spitzgesichtern hindurch.
    „Laß uns fliehen! Jetzt gleich!“, forderte Maramir in flüsterndem Ton, als sie endlich direkt neben Kar stand und ihre Hand ergriff.
    Da traf sie Kars harte Antwort wie ein Schlag vor den Kopf.
    „Nein!“, zischte sie und zog ihre Hand weg.
    „Aber ... die Spitzgesichter ...“, stammelte Maramir.
    „Sieh mich an!“, entgegnete Kar. „Wie weit würde ich kommen? - Sollen wir verhungern? Erfrieren? - Man würde uns jagen; und die Spitzgesichter hätten keine Mühe, uns zu finden. Vielleicht werden sie mich töten. Aber du, Leikika, sollst leben! Du hast Wolfsblut in dir. Ich will, daß du lebst, für die Ahnen!“
    Maramir empfand plötzlich Wut, aber gleichermaßen auch Angst und Sorge. Jeder Versuch zu sprechen blieb ihr im Hals stecken. Als sie sich verzweifelt nach Leinocka umschaute und diese wie ein verängstigtes Tier, am Boden kauernd zwischen den Beinen der Spitzgesichter hocken sah, wußte sie, daß Kar Recht hatte. Eine Flucht war aussichtslos. - Und so blieb ihr nur der bittere Gedanke, gemeinsam mit Kar sterben zu wollen.
     
    Als der neue Tag anbrach, hockten Kar und Maramir eng aneinander geschmiegt vor der rauchenden Asche des mittlerweile erloschenen Feuers und versuchten zu begreifen, was geschehen war. Ihre Gesichter waren blaß und von Furcht und Sorge gezeichnet. Aber vor allem versuchten sie zu verstehen, was nicht geschehen war. Mutter Schwarzhaar Wangenfleck lag noch immer so da, als würde sie schlafen, doch ihr Körper war ohne Leben. Während sie geschlafen hatte, kam der Tod. - Aber außer ihrer Tochter, die zunächst brüllend wild um sich geschlagen hatte und nun wimmernd über dem Leichnam kauerte, war niemand außer sich geraten. Keiner von ihnen hatte Kar angegriffen. Niemand wollte Rache. Unablässig fragte sich Maramir, warum die Spitzgesichter keine Vergeltung üben wollten. - Der mächtige Geist eines Tieres hatte letzte Nacht durch die Knochenfrau gesprochen! Was hatte er den Spitzgesichtern verkündet? - Niemand schien Anstoß zu nehmen, an dem was vorgefallen war. Man nahm es einfach hin. - Was auch immer

Weitere Kostenlose Bücher