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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Menez
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Mädchens zu verteidigen, beugte sie sich langsam vor und nahm das zitternde Kind so selbstverständlich auf ihren Arm, als wäre es ihr eigenes. Jetzt aber wagte sie nicht einen einzigen Schritt. Die Angst vor den Umstehenden ließ das Kind in ihren Armen so schwer wiegen, daß ihre Beine zitterten und zu versagen drohten. Da erhob sich die Knochenfrau und stieg schwerfällig von ihrem Platz auf dem Felsen herab. Sie hielt die knöcherne Pranke eines Bären hoch und wandte sich dem Feuer zu. Dann fing sie an, zu schwanken und zu summen, dabei drehte sie sich langsam im Kreis, zuckte und schien dabei zu wachsen. Ein Röcheln und Brüllen entfuhr ihrer Kehle. Knurrend sprach sie einige Worte, denen man größte Achtung schenkte. - Dann ließ ihre Kraft nach. Sie fing an zu taumeln und drohte zu fallen. Sofort eilte eine Frau herbei, um die Alte zu stützen. - Die Trommeln brachen wieder los. Feuerauge lächelte voller Dankbarkeit. Erneut tanzten und sangen die Spitzgesichter – doch dieses Mal drückte der Tanz Freude aus.
    Als Maramir zurück an ihren Platz ging, spürte sie, wie Tränen in ihr aufstiegen – sie mußte weinen, vor Erleichterung und wegen eines seltsamen Empfindens, das sie verspürte; einem starken Gefühl, weich und schmiegsam, wie der kleine Körper des Mädchens in ihren Armen.
    Nun vollzogen die Spitzgesichter das Ritual, dem Leichnam den Schädel zu öffnen und das Gehirn, den Hort von Geist und Seele, zu entnehmen, damit es die Frauen des Stammes zeremoniell verspeisen konnten. Kar saß nur starr neben Maramir und schien darum zu kämpfen, Haltung zu bewahren. Maramir wußte, wie schwer es Kar fiel, ihren Ärger zu verbergen. Gerade deswegen hoffte sie inständig, daß ihre Schwester sich schnell besinnen würde. Bisher hatte niemand Vergeltung für den Tod von Mutter Schwarzhaar Wangenfleck gefordert. Die Gewißheit, daß die Seele ihrer Feindin in den Frauen des Stammes fortlebte, beunruhigte Maramir ebenso wie Kar. Von diesen Frauen hatten sie nichts Gutes zu erwarten. Aber ihre Tat, dem Kind beizustehen, trug nicht dazu bei, Rachegelüste zu schüren, ganz im Gegenteil. Ihre Schwester konnte ihr dankbar sein.
    „Du hast das Kind deiner Feindin angenommen!“, raunte Kar in harschem Ton. „Sag mir, Leikika! Ist dein Geist verwirrt?“
    „Die Spitzgesichter hätten sie getötet ... Ein Kind ihres Stammes ... nicht das ihrer Feinde ...“, stammelte Maramir und versuchte, einen Funken Mitleid im Ausdruck ihrer Schwester zu entdecken. Als sie ihren Blick senkte und auf das Kind in ihren Armen sah, spürte sie, daß auch Kars Augen sich nun auf das hilflose, völlig verängstigte Mädchen richteten.
    „Es wäre besser für uns gewesen!“, entgegnete sie kalt.
    Kars unerbittliche Härte ließ Maramir erschrocken zurückweichen.
    „Deine Seele stirbt von innen!“, dachte Maramir und sprach es aus; die Worte verließen wie von selbst ihren Mund. Obwohl warnend gemeint, klang es beinahe wie ein Fluch.
    Kar erstarrte. Dann sagte sie in ruhigem Ton: „Ich würde niemals das Junge einer Mähnenkatze aufziehen. Es würde später nicht zögern, mich zu töten. Ich rate dir, bring das Kind fort und überlasse es den Ahnen!“
    Verunsichert kaute Maramir auf ihrer Unterlippe. Mutter Weißhaar und die Alten ihres Stammes hätten vermutlich dasselbe geraten. Zitternd lag das Kind in ihren Armen, das kleine Gesicht an Maramirs Brust gedrückt.
    „Du wirst niemals vergessen, daß ich dir das Leben geschenkt habe“, flüsterte Maramir in hoffnungsvoller Zuneigung. - Aber der bittere Nachgeschmack eines Zweifels blieb ...
    Maramir hatte eigenmächtig gehandelt. Kar spürte, daß sie den Einfluß auf ihre Schwester verloren hatte und fragte sich nun, ob sie beide noch den selben Weg beschritten. Ihre kleine Schwester war eine Frau geworden. Sie ließ sich nichts mehr verbieten. - Aber sie war keine kluge Frau. Hatte Maramir denn nichts daraus gelernt, daß sie nur knapp dem Tod entgangen war? - Gerade noch rechtzeitig war sie zur Stelle gewesen, um Mutter Schwarzhaar Wangenfleck daran zu hindern, Maramir zu töten. Keiner würde ihre Schwester so gut beschützen, wie sie es getan hatte. - Sie zeigte Maramir ein spöttisches Grinsen und sah wieder auf den zerstückelten Leichnam ... und sie fragte sich ein weiteres Mal, warum man keine Vergeltung an ihr verübte. Man beachtete sie weder mehr noch weniger als sonst. - Was hatte die Alte den Spitzgesichtern erklärt? - Jetzt fragte sich Kar zum ersten

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