Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
doch mal …«
Und wir erzählten. Ich erzählte von meiner Schwester, mit der ich mich nur noch stritt und die mir das Leben schwermachte, seit wir uns nach unserem Umzug in die Stadt ein Zimmer teilen mussten. Dass meine Mutter schon wieder einen Neuen hatte, obwohl mein Vater kaum unter der Erde war und dass mich mein Freund betrogen hatte. Dass ich versucht hatte, mich deswegen umzubringen, und dass meine Mutter in ihrem religiösen Wahn überhaupt kein Verständnis dafür gehabt hatte. Dass sie mich aus dem Haus getrieben hatte mit ihrer Kontrolle und ich überhaupt schon ganz gut allein klarkäme. Ich brauchte sie nicht, diese spießigen Erwachsenen mit ihren Regeln, ich sei alt genug und bla, bla, bla. Grundnaiv und ohne jede Ahnung war ich, aber ich fühlte mich für voll genommen. Da hörte mir einer zu, der nicht gleich tadelnd sagte: »Das geht aber nicht, du musst in die Schule, ein Abschluss ist wichtig, was soll denn sonst aus dir werden?« Werden?! Ich war bereits, warum sah das eigentlich keiner?
Dieser Mann, den ich vorher noch nie gesehen hatte, nahm mich ernst. Das war unglaublich. Und die, die vorgaben, mich zu kennen, hatten mich nie ernst genommen. Hatten irgendetwas geschwallt von Lernen und Entwicklung und von Glauben und Sünde.
Ausgerechnet ihm vertraute ich mich an und gab ihm die Instrumente an die Hand, die er nachher nach Belieben einsetzen konnte. Lea tat das Gleiche.
Kugler hörte uns zu, nickte einfühlsam oder vermeintlich empört über das Versagen unserer Familien. »Wie können die nur? Ihr seid doch so tolle Mädels, so zerbrechlich, da kann man doch nicht … Also, ich hätte ganz anders …« Er sagte uns, dass wir hier in der Merseburger Straße wie eine große Familie seien, in der jeder für den anderen da sei, alle aufeinander aufpassen würden. Sicher, ein paar Regeln gäbe es auch hier, aber die seien für jede nachvollziehbar, sie seien einfach wichtig, um das Zusammenleben zu organisieren.
Ich dachte an so etwas wie Abspülen, Putzen und Einkaufen.
Kugler fragte uns, ob wir Drogen nehmen würden, und machte uns deutlich, dass er das nicht dulden würde und dies ein Grund sei, uns vor die Tür zu setzen. Auch das fand ich gut. Drogen machten einen kaputt. Also harte Drogen. Ich wollte schließlich nicht so enden wie meine Mutter, aber die hatte es ja auch nicht im Griff. Die war ja kaputt. Ich nicht.
Als er uns nach einer Weile etwas zu trinken anbot, griffen wir zu. Erwachsene dürfen trinken. Der Typ war einfach nur cool, der nahm uns wirklich ernst.
Das Nächste, was ich wahrnahm, war eine gewisse Benommenheit. Die Schrankpyramide gegenüber wurde größer und größer, das Plüschsofa unter mir wurde noch weicher, alles um mich herum versank. Ich sah noch, wie Kugler grinsend Schwarte zunickte, danach war nichts mehr. Nur wohlige Wärme und eine große Leere.
Als ich wieder zu mir kam, war mir kalt. Benommen streckte ich meine Hand nach einer Decke aus. Da war aber nichts. Mir war übel, ich musste mich aufsetzen.
Wo war ich überhaupt? Mühsam rappelte ich mich hoch. Nur langsam nahm der Raum um mich herum Konturen an. Ein Couchtisch mit hellen Kacheln, mehrere Gläser mit Resten drin. Eine angebrochene Packung mit Crackern, Partymischung. Am anderen Ende des Sofas lag Lea. Nackt? Wieso hatte sie nichts an? Ich verspürte ein Ziehen im Unterleib. Was sollte das denn jetzt? Meine Tage hatte ich doch erst gehabt? Wahrscheinlich zu viel getrunken gestern, würde auch die Übelkeit erklären. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich genauso wie Lea auf dem Sofa lag. Ich hatte nichts an, meine Klamotten waren nirgends zu sehen.
Scheiße, was sollte das bedeuten? Ich stand auf, jede Bewegung tat weh, und taumelte in den Flur. Trixi kam mir entgegen.
»Wo sind denn unsere Sachen? Mir ist kalt. Ich will mir was anziehen.«
»Deine Klamotten sind weg.«
Wie, weg?
»Hier im Schrank, da sind deine neuen Sachen.«
Ich sah sie verstört an.
Trixi deutete mit dem Kinn auf einen Einbauschrank. »Mann, du bist wirklich schwer von Begriff, oder?« Sie packte mich am Handgelenk, zog mich zum Schrank und riss eine der Schubladen auf. »Hier! Bedien dich!«
Ich prallte zurück. Das konnte sie nicht wirklich ernstmeinen. Die Sachen waren eindeutig. Pornokram. Nuttenzeug. Wie in dem Film, den Thorsten mir mal gezeigt hatte. »So geht das, Baby, so. Das ist geil.« Meine rosarote Teenie-Brille hatte an diesem Abend erste Sprünge gekriegt. Ich wollte den
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