Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
für Laufkundschaft geschlossen sei. Wir sollten aufräumen und putzen, alles hübsch machen, vor allem uns. »Ihr werdet unsere Gäste nackt empfangen, wir wollen den Herrschaften ja von Anfang an was bieten!«
Kurz bevor er wieder fuhr, bekam ich ein Telefonat mit, das mich schockierte. Ich hörte, wie er sagte: »Ja, ich hab frische Ware … wunderbar, bis später.«
Am Abend stand ich vor dem Fenster und starrte nach draußen. Ich sah die Weihnachtsbeleuchtung in einer Wohnung gegenüber und dachte an zu Hause. Spießig irgendwie, aber trotzdem schön. Wieso hatte ich mich nicht an die Regeln halten können? Regeln. Diese beschissenen Regeln, die einem die Luft zum Atmen genommen haben. Warum habe ich nicht auf sie gehört? Wenn ich hier raus bin, werde ich brav sein und nie wieder Ärger machen, das verspreche ich dir, Mama. Und was, wenn sie recht hat und ich wirklich für nichts zu gebrauchen bin? Wenn sie froh ist, dass ich weg bin? »Ohne dich wäre das Leben für uns alle einfacher«, das hatte sie in letzter Zeit oft gesagt. Sie muss es ja wissen, sie ist schließlich meine Mutter. Dann habe ich es also nicht anders verdient? Es ist besser so. So wie es jetzt ist.
Ich fühlte mich leer. Eine endlose Leere.
Lea kam herein, sie wirkte wie immer, kindlich-naiv, beinahe fröhlich. Keine von uns wusste, was an diesem Abend auf uns zukommen würde. Kugler hatte gesagt: »Keine Aufregung, das wird ganz entspannt …«
Ich sah auf die Uhr. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er mit seinen »Geschäftsfreunden« zurückkam.
Die anderen Mädchen setzten sich auf das Sofa, Lea und ich hockten uns auf den Zweisitzer neben der Schlafzimmertür. Kugler betrat in Begleitung von vier Männern die Wohnung. Sie musterten uns interessiert, mir war das unangenehm, ich blickte immer wieder nach unten. Vor allem einer fiel mir auf, ein großer Kerl mit markantem Gesicht und stechenden Augen, die einen regelrecht durchbohrten. Er blieb mit Kugler stehen, während sich die anderen drei zwischen uns setzten.
»Na, Mädels, nicht so schüchtern!« Der Typ, der auf dem Sofa Platz genommen hatte, zog Ines und Jasmin näher an sich heran. Er grinste breit. »Haha, so was Nettes hat man nicht alle Tage in den Fingern.« Es war widerlich.
Kugler schoss mir und Lea einen eindeutigen Blick zu. Los, kommt endlich in die Gänge!
Ich sah zu dem Mann auf dem Sessel hinüber. Unter anderen Umständen hätte ich ihn wohl ganz sympathisch gefunden. Er wirkte seriös, seine Kleidung war sorgfältig gewählt, eine gepflegte Erscheinung, eher kräftige Figur, aber noch attraktiv für sein Alter. Er lächelte mich freundlich an, dann beugte er sich nach vorn und streckte mir seine Hand entgegen. Ich zögerte einen Moment, bevor ich aufstand und mich auf die Armlehne des Sessels setzte. Energisch umfasste er mich und zog mich zu sich herunter.
Als wäre es vollkommen normal, nackte Minderjährige auf dem Schoß zu haben, begannen die drei Herren eine Unterhaltung. Worüber, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass im Hintergrund Musik lief, »Hero« von Tina Turner, und dass er mir unablässig über die Oberschenkel strich. Ich starrte auf die Platte des Couchtischs und den Adventskranz mit den flackernden roten Kerzen darauf. Die Lichter tanzten über die Fliesen des Tisches. We are the children, the last generation. We are the ones they left behind. And I wonder when we are ever gonna changing, living under the fear till nothing else remains. We don’t need another hero … 1 Ich mochte dieses Lied, diese kraftvolle, raue Stimme, mit der sie es sang.
Ich hörte die Männer reden und auch wieder nicht. Was spielte es schon für eine Rolle, worüber sie sprachen. Irgendwann wären sie fertig damit. Und dann? Vielleicht war er auch einer von diesen Perversen, die einem nur weh tun wollten und Spaß daran hatten, irgendwo abzuspritzen, nur nicht im Gummi. Du Hure hast es nicht anders verdient.
Ich zuckte zusammen. Meint er mich?
Kuglers Stimme übertönte alles. Ines sollte aufstehen und sich anziehen, der Mann, mit dem er die ganze Zeit über geredet hatte, wollte, dass sie mitkam. Wohin? Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.
Für die anderen Männer wirkte das wie ein Startschuss. Sie witzelten darüber, wer anfangen durfte. »Bitte, nach Ihnen …« – »Aber nein, nach Ihnen …«
Ich weiß nicht mehr, wer von uns als Erste ins Schlafzimmer musste. Ich weiß nur noch, dass er mich an der Hand nahm und die Falttür hinter
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