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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Kopp
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was ich sagen sollte.
    Als der Lehrer den Klassenraum betrat, war alles in Aufruhr. Er merkte, dass Unterricht sinnlos war, die Schüler mit mir beschäftigt waren. Ich denke, er hat es nur gut gemeint, als er sagte, dass wir die Stunde nutzen sollten, um alle Fragen aus dem Weg zu räumen. Aber ich kam nun mal nicht von einem Auslandsjahr zurück, von dem ich tolle Geschichten hätte erzählen können. Sondern direkt aus einem Alptraum, den ich nun vorne an der Tafel stehend schildern sollte.
    Ich stand vor der Klasse, zwanzig Augenpaare auf mich gerichtet, und kämpfte mit den Tränen. Ich schämte mich, traute mich aber nicht, nein zu sagen. Altes Muster, haha.
    »Mandy, erzähl doch mal, wie bist du da reingeraten?«
    »Wie viele Männer kamen da?«
    »Musstest du richtig mit denen ins Bett gehen?«
    »Wie bist du da wieder rausgekommen?«
    Was sagt man auf solche Fragen? Ich antwortete wie in Trance, wie ein Roboter, mit monotoner, blecherner Stimme, ohne jede Emotion. Es war ein einziger Alptraum, die Fortsetzung des Alptraums, in dem ich mich die letzten Wochen über befunden hatte.
    Ich bemühte mich, Antworten zu finden, auch wenn ich selbst keine hatte. Ich war froh, als der Gong die nächste Stunde einläutete.
    Als ich mittags aus dem Gebäude trat, stand der BMW immer noch da. Der Beifahrer, irgendwoher kannte ich den, grinste mich breit an. Sie starteten den Wagen, rollten wieder langsam neben mir her. Bis nach Hause. Ich stürzte die Treppen hoch in den ersten Stock, knallte die Tür hinter mir zu und hockte mich auf den Boden. Niemand war da. Warum ist eigentlich nie jemand da? Wie ein Fremdkörper stolperte ich durch die Wohnung. Das war nicht mehr ich. Was war ich denn? Wer war ich denn? Ich wusste es nicht. In der Küche schmierte ich mir ein Brot, den Rest des Nachmittags über hockte ich in meinem Kinderzimmer und starrte Löcher in die Decke. Ich habe mich selten so allein gefühlt wie an diesem ersten Tag meines neuen alten Lebens.
    Am nächsten Morgen dann das gleiche Spiel. Selbst vom Pausenhof aus sah ich den BMW . Sie waren überall. Du hast keine Chance. Nach der vierten Stunde hielt ich es nicht mehr aus und verließ fluchtartig die Schule. Über den Notausgang. Einigen Freunden sagte ich, dass ich zurückmüsse, in die Wohnung, zu den anderen Mädels, und dass ich meine Familie nicht in Gefahr bringen wolle. Sie sahen mich an, als hätte ich gesagt, dass ich zum Mond reisen würde.
    Ich fuhr ohne Umweg in die Merseburger Straße zurück, in der Hoffnung, dass die anderen noch da sein und wir gemeinsam eine Lösung finden würden. Einen anderen Ausweg sah ich nicht. Meine Eltern informierte ich nicht. Ich war so kopflos, dass ich schlicht nicht daran dachte, was ich ihnen mit meinem neuerlichen Verschwinden antat.
    Hätte ich länger durchhalten sollen? Vielleicht ja. Für meine Umwelt muss ich genauso wie vom anderen Stern gewirkt haben wie die auf mich. Aber ich hatte keine Kraft und keinen Blick dafür. Wie auch. Es gab kein »Kriseninterventionsteam«, das sich um uns und unsere Familien gekümmert hätte. Keinen Therapeuten, den man uns zur Seite gestellt hätte. Die Einzigen, die um uns herum waren, waren die Leute von der Presse. Eine hungrige Meute, die auf Sensationen lauerte. Nicht um Mitfühlen oder Einfühlen ging es, nur um Auflage. In der Leipziger Zeitung gab es sogar eine Fortsetzungsserie mit dem Titel »Die Kinder vom Club Jasmin«. Und ich »lieferte« die Schlagzeile: »Mandy weinte – ich bring mich um.« Niemand kümmerte sich darum, was in uns vorging. Man hatte die Geschichte im Kasten, fertig, aus. Die Trümmer muss jeder allein wegräumen.
    Bei den Mädchen vom Jasmin jedenfalls musste ich mich nicht erklären, sie wussten, mit welchen Gedanken, welchen Vorwürfen, welchen Ängsten ich mich quälte.
    Als ich in der Merseburger Straße ankam, waren alle bis auf Ines dort. Ich erzählte aufgelöst, dass ich auf Schritt und Tritt verfolgt würde. Die anderen warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Ich war offenbar nicht die Einzige, auch sie waren »gewarnt« worden. Sie erzählten mir, dass Kuglers Leute bei ihnen gewesen waren. »Wir sollen das, was wir gegenüber der Polizei und der Presse gesagt haben, zurücknehmen. Und klarstellen, dass wir alles freiwillig gemacht haben. Kugler soll als guter Kerl rüberkommen, der es nur gut mit uns gemeint hat. Wenn wir das nicht hinkriegen, seien wir so gut wie tot. Und dass es keinen Ort auf der Welt gebe, an dem wir

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