Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
mir lassen. Aber so einfach war das nicht.
Als ich an meinem »ersten Schultag« morgens das Haus verließ, um zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen, rollte ein weißer BMW neben mir her. Im Schritttempo, ein paar Meter hinter mir. Ich beschleunigte meine Schritte, am Ende rannte ich. An der Haltestelle warteten zwei meiner Klassenkameraden auf die Bahn. Völlig außer Atem suchte ich hinter ihnen Schutz. Ich hatte Angst. Reiß dich zusammen. Das ist nur ein dummer Zufall. Es geht nicht um dich, wer weiß, warum die so langsam fahren.
Auf Höhe der Haltestelle bremste der Wagen kurz ab. Der Typ auf dem Beifahrersitz hatte die Fensterscheibe geöffnet, sein rechter Arm hing lässig über die Tür. Er sah mich durchdringend an, hob seine linke Hand, formte mit den Fingern eine Pistole und drückte ab. Dann gaben sie Gas und fuhren mit quietschenden Reifen davon.
In diesem Moment wusste ich, dass ich keine Chance hatte. Es war eine unmissverständliche Drohung gewesen, früher oder später würden sie mich kriegen. Und dann?
Während meine Schulkameraden mich mit großen Augen anglotzten, rang ich um Fassung. Versuchte, das, was soeben passiert war, einfach wegzuschieben. Hat doch sonst immer funktioniert. Es gelang mir nicht. Ich hatte Kugler mit meiner Aussage belastet. Mehr als einmal hatte er uns in schillernden Farben ausgemalt, was passieren würde, wenn wir ihn hinhängen würden. Mit meiner Rückkehr nach zu Hause hatte ich auch noch meine Familie in Gefahr gebracht. Ich sah das Schwein vor mir auf der Couch sitzen. »Das wollt ihr euch nicht wirklich vorstellen … Nein, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Ich habe meine Kontakte. Gute Kontakte. Ganz nach oben. Und die helfen mir, da kann ich mich drauf verlassen. Das ist nicht so wie bei euch, ich kenn euch doch. Selbst wenn ich im Knast sitzen sollte, werde ich euch kriegen. Ich hab da meine Leute, und die spuren, da könnt ihr einen drauf lassen.«
Es war ein Fehler. Ich hätte nichts sagen dürfen. Ihn nicht belasten. Scheiße noch mal, es war richtig. Wieso musste ich auch erzählen, was wir im Jasmin machen mussten. Hab doch eh nicht alles erzählt, nur die harmlosen Sachen. Harmlos? Hast wohl eher nicht begriffen, was dir da eigentlich zugestoßen ist. Ist doch egal jetzt … Die Polizei wird uns beschützen. Und? Wo sind die Bullen jetzt? Keiner zu sehen. In die Schule gehen. Pah. Alles wird wieder normal. Schöne Normalität. Was mach ich überhaupt hier? Wieso stehe ich an dieser blöden Haltestelle? In der ersten Stunde ist Mathe. Guckt nicht so doof. Ich kannte die auch nicht.
Ich zitterte am ganzen Körper. Die Angst kam in Wellen, sie überrollte mich. Ich zweifelte mit einem Mal an allem. An meiner Aussage. An meinem »neuen« alten Leben, an allem. Warum war jetzt keines der anderen Mädchen da? Ihnen müsste ich nichts erklären, sie wüssten genau, was in mir vorgeht. Sie waren mein Halt, nicht meine Eltern, nicht mein Zuhause, nicht meine Schulkameraden. Mit denen hatte ich früher schon nichts anfangen können, angepasste Duckmäuser. Was war das für eine Welt, in die ich geworfen war? Sie war mir einfach nur fremd, hier gehörte ich nicht mehr hin.
In der Straßenbahn setzte ich mich allein in eine Bank. Sollten die anderen beiden doch denken, was sie wollten. Ich starrte aus dem Fenster, Straßen und Häuser zogen wie im Film an mir vorbei. Alles wie früher, nichts hat sich geändert. Falsch! Du hast dich geändert, du bist nicht mehr wie früher. Wolltest doch immer anders sein. Nicht so wie die Langweiler, die Streber, die immer brav nach Hause gerannt sind und ihre Hausaufgaben gemacht haben. Fein, Mami, ja, Mami. Um halb zehn bin ich wieder da, versprochen. Das ist die Quittung, du hast es nicht anders gewollt.
Die Straßenbahn hielt mit einem energischen Ruck. Ich griff meine Tasche und ging zur Tür. Als ich ausstieg, sah ich den BMW vor der Schule stehen. Ich zog den Kopf ein und mischte mich unter die ganzen Schüler, die schwatzend und lärmend auf das Gebäude zuströmten.
Bloß weg von der Straße. Noch vor dem Gong war ich im Klassenzimmer. Meine Mitschüler trudelten langsam ein, sie musterten mich, dann kamen die ersten auf mich zu und löcherten mich mit Fragen.
»Sag mal, ich hab da was in der Zeitung gelesen …«
»Das warst doch du, oder?«
»Wie ist das denn passiert?«
»Pack ich ja gar nicht.«
»Deshalb warst du so lang nicht hier. Is echt ’ne irre Geschichte.«
Ich wusste überhaupt nicht,
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