Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
alles miteinbezogen – und zum Babysitter deklariert. Auch wenn ich mich manchmal etwas ausgenutzt fühlte, erledigte ich alles, ohne mich darüber zu beschweren. Ich redete in dieser Zeit sowieso kaum und zog mich, wann immer es ging, auf die Terrasse hinter dem Haus zurück.
Mein neues Zuhause lag in einem noblen Wohnviertel in der Nähe des Erlenhofsees im schönen Westerwald. Hier sollte ich zur Ruhe kommen, später zu einer anderen Pflegefamilie wechseln und, sobald etwas Geeignetes gefunden war, in einem Internat wieder in die Schule gehen.
Es war ein Tag im April, als Horst aus dem Büro kam und mit mir sprechen wollte. Wir setzten uns in die Küche, und er sagte mir, dass noch einmal zwei Polizeibeamte aus Leipzig kommen würden, um mir ein paar Fragen zu stellen und mit mir über die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu sprechen. Ich sollte unter Zeugenschutz stehen, als Kronzeugin der Anklage im bevorstehenden Prozess gegen Kugler; einige der anderen Zeuginnen hatten ihre Aussagen bereits widerrufen. Ich schien plötzlich allein zu stehen.
Der Tag, an dem ich mit den beiden Beamten in der Küche saß, machte mir noch einmal bewusst, dass das Leben, das ich einmal gehabt hatte, nicht mehr existent war. Ich musste noch einmal detailliert schildern, was geschehen war. Ich würgte jeden Satz hinaus, zeitweise weinte und zitterte ich so sehr, dass ich nicht weitersprechen konnte. Am Ende des neunseitigen Protokolls steht auf einem Beiblatt, das ich damals allerdings nicht kannte: Während der Vernehmung der Zeugin hinterließ sie einen durch das Geschehen geprägten Eindruck. Frl. Schm. brach öfters in Tränen aus bei der Darstellung ihrer Erlebnisse. Bei manchen Passagen ihrer Schilderung war noch ein deutliches Zittern am Körper zu verzeichnen. Die Vernehmung musste mehrmals unterbrochen werden, bis Frl. Schm. sich beruhigt hatte .
Bevor die Beamten gingen, erklärten sie mir, dass meine Akten von nun an unter einem Decknamen geführt würden, dass ich niemandem erzählen dürfe, was ich in der Vergangenheit erlebt hatte, mein Aufenthaltsort unter allen Umständen geheim gehalten werden müsse. Nur ein kleiner Kreis von eingeweihten Personen, zu denen auch meine spätere Pflegefamilie und der Leiter des Internats gehörten, wüsste von meiner Vergangenheit.
Kurz nach diesem Treffen bekam ich Besuch von meiner neuen Pflegemutter.
Ich mochte Anke, eine junge, adrette Frau, von unserer ersten Begegnung an. Sie war interessiert, fragte mich vieles, aber wollte nichts aus der Zeit im Jasmin wissen. Diese Phase meines Lebens war tabu, sie schien erst einmal völlig unwichtig für sie zu sein. Nach unserem ersten Treffen konnte ich es kaum abwarten, zu ihr zu ziehen. Sie hatte zwei Kinder, und ich mochte ihre lockere, unbeschwerte Art.
Der Tag, an dem sie mich abholte, war ein Freudentag für mich. Einer der ersten seit langer Zeit. Als wir in meinem neuen Zuhause ankamen, wartete der Rest der Familie bereits auf uns. Ihr Sohn war damals neun oder zehn Jahre alt, die Tochter knuffig und süß mit ihren zwei Jahren. Ich verliebte mich gleich in die Kleine und fühlte mich von Anfang an von der ganzen Familie angenommen. Anke strahlte pure Lebensfreude aus, die mir mehr als guttat. Und der kleine Ort im Westerwald, fernab von jedem Großstadtgetümmel, schien perfekt für einen Neuanfang.
In den ersten Tagen bei der neuen Familie war alles noch sehr aufregend. Ich fühlte mich wohl, hatte ein schönes Zimmer, spielte mit der Kleinen, kam auf andere Gedanken. Aber dann, als langsam der Alltag einkehrte, begann es. Eine Zurückgezogenheit in mich selbst, die mir nicht guttat. Manchmal bekam ich nicht einmal mit, wenn mich beim Abendbrot jemand ansprach. Meine Gedanken waren weit weg, weg von der Gegenwart. Als Nächstes kamen die Alpträume, das Zittern und dieser Druck auf der Brust. Diese unsichtbaren Schlingen, die das Atmen so verdammt schwermachen, die Lungen einschnüren, die waren nun meine täglichen Begleiter. Ich hatte das Gefühl, zu fallen, ins Bodenlose, ins Nichts. Die Bilder und Erlebnisse der letzten Monate rollten wie ein führerloser Vierzigtonner auf mich zu. Immer wieder brach ich, scheinbar ohne Grund, in Tränen aus. Nachts hatte ich unerklärliche Schmerzen, wälzte mich hin und her, fand keine Ruhe.
Auch tagsüber hatte ich mich immer weniger unter Kontrolle. Ich wollte nicht, dass meine Pflegeeltern davon etwas mitbekamen, ich schämte mich allein bei der Vorstellung, dass sie wussten,
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