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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Kopp
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was ich »getan« hatte. Aber es gab Momente, an denen ich überhaupt nicht mehr aufhören konnte zu heulen. Der ganze Schmerz, das Elend, die ganze Angst, die ich so lange zu deckeln versucht hatte, suchten sich ein Ventil. Mein Körper rebellierte. Es gab Tage, an denen ich kaum einen Bissen herunterbrachte, und andere, an denen ich vor Verzweiflung so viel in mich hineinschlang, dass danach nur noch der Weg zur Toilette blieb.
    Reden? Das konnte ich nicht.
    Anke hatte irgendwann einen Arzt geholt, der mir eine Beruhigungsspritze gab, wenn mich die Bilder mal wieder vollkommen aus dem Hier und Jetzt gerissen hatten. Unbarmherzig, quälend. An manchen Tagen wollte ich nicht einmal den Arzt an mich heranlassen, niemand durfte mich dann berühren. Von einer Sekunde auf die nächste verlor ich vollkommen die Kontrolle über mich.
    Auch heute leide ich noch unter diesen Flashbacks, wenngleich sie nicht mehr ganz so häufig kommen, nicht mehr ganz so heftig sind, dass sie mich völlig außer Gefecht setzen. Aber sie laugen mich aus. Der Tag danach ist immer sehr schwierig. Meist bin ich vollkommen übermüdet, jeder Handgriff fällt mir schwer, gleichzeitig bin ich voller Tatendrang. Als wäre ich zwei, als würden ein depressiver und ein manischer Teil miteinander ringen, wer die Oberhand behält. Das emotionale Chaos ist absolut.
    Kurz nach meiner Befreiung stand in der Zeitung: Mandy weinte. »Eines Tages bringe ich mich um.«
    Dreizehn Jahre später schreibe ich in die alte Kladde mit meinen Gedichten folgenden Text:
Was ist los, was ist nur los mit mir?
Ich liege in der Badewanne und habe das Gefühl,
dass mich das Wasser nicht berührt.
Dass mein Körper, meine Seele nichts mehr spürt.
Kann meinen Geist, meine Gedanken nicht halten,
ich sinke ins Bodenlose, ich sinke ins Nichts.
Ich spüre, wie ich mich löse,
mit meinem Geist von dieser Welt.
Halt mich fest, reiß mich heraus aus diesem Loch,
durch das Tor in eine neue Welt.
    *
    Nach einigen Wochen der Eingewöhnung war es so weit: Ich sollte das Internat kennenlernen, auf dem ich meine mittlere Reife machen sollte. Schüchtern und vollkommen unsicher gab ich dem Internatsleiter die Hand. Zum Glück stand Anke hinter mir. Wir setzten uns gemeinsam mit dem Vereinsvorsitzenden an den Tisch in seinem Büro. Die Herren erklärten mir, dass ich mit keinem der Internatsbewohner über meine Herkunft reden, niemandem erzählen dürfe, was mir zugestoßen war. Die Sicherheit der anderen Kinder im Internat dürfe unter keinen Umständen gefährdet werden. Sollte ich mich nicht daran halten, müsste ich das Internat verlassen. Das Risiko, dem die anderen Kinder dann ausgesetzt wären, könne er nicht eingehen. Freundlich, aber direkt, der Internatsleiter.
    Ich hatte eine grobe Ahnung, warum mir dieser »Maulkorb« umgehängt wurde, fühlte mich aber trotzdem im ersten Moment zurückgesetzt. Kannte ich ja schon. Erst als erwachsene Frau erfuhr ich von dem Aufwand, der damals betrieben wurde, um mich und die anderen Kinder zu schützen. Im Alltag fiel es mir nicht schwer, mich an die strengen Vorgaben zu halten. Nicht zuletzt, weil ich selbst froh darüber war, dass keiner etwas über meine Vergangenheit wusste. Die Fragestunde in meiner alten Schule hatte ich nur allzu gut in Erinnerung. Außerdem konnte ich mich so hinter dem Gedanken verstecken, die Zeit im Jasmin wäre tatsächlich nie passiert.
    Nach dem Gespräch wurde ich der Gruppe im Mädchenhaus vorgestellt, wo ich die Woche über wohnen würde. Dort begegnete ich zum ersten Mal der Frau, die bis heute ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Frau Reichling, unserer Gruppenleiterin. Dabei war sie viel mehr, sie war die Gruppenmama, eine Frau mit wahnsinnig viel Herz am rechten Fleck. Keines der Kinder hätte irgendetwas getan, das sie enttäuschte. Heute, zwanzig Jahre später, ist sie eine Freundin, die ich nicht mehr missen möchte. Aber es sollten viele Jahre vergehen, bis sich unsere Wege nach meinem Schulabschluss erneut kreuzten.
    Da stand ich nun also wieder vor einem Neuanfang, unsicher und mit wenig Gepäck, das kannte ich ja schon, und bemühte mich, mich ins Internatsleben zu stürzen. Ich blieb eine Außenseiterin, war einsamer, als ich mir das eingestehen mochte. Ich freute mich auf die Wochenenden bei meiner Pflegefamilie. Anke tat alles, um mir die kurze Zeit daheim zu versüßen. Wir machten Ausflüge, spielten gemeinsam Karten – und gingen hin und wieder mit einer Freundin meiner Pflegemutter in die

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