Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Erinnerungen überfielen mich mit der Zeit auch tagsüber. Ich war unkonzentriert, ging innerlich auf Rückzug, ließ niemanden mehr an mich heran und wirkte vollkommen verstört auf andere. Meine Mitbewohnerin im Internat bezog in dieser Zeit ein anderes Zimmer, sie fand wegen mir und meinen Schlafstörungen keine Ruhe mehr. Nacht für Nacht tigerte ich allein im Zimmer umher, bekam Heulkrämpfe und baute körperlich immer mehr ab.
An einem Wochenende rief Anke den Notarzt, der mich mit Beruhigungsspritzen erst mal außer Gefecht setzte. Doch auf Dauer war das keine Lösung. Horst und Anke setzten sich zusammen. Der Arzt war überdeutlich gewesen, hatte dringend eine spezielle Therapie gefordert, möglichst stationär. Die beiden sagten mir, dass ich – sofern ich einverstanden sei – für sechs Monate in eine Spezialklinik kommen sollte. Das sei das Beste für mich.
Ich war hin- und hergerissen. Ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, ich hatte angefangen, mich zu ritzen, und war nur noch ein Wrack. Aber die Vorstellung, für sechs Monate eingesperrt zu sein, fand ich unerträglich. Wieder rausgerissen aus einem Zuhause, all die Mühe in der Schule umsonst. Und Wolfgang ein halbes Jahr nicht zu sehen war undenkbar. Er gab mir doch alles, was ich brauchte. Oder nicht? Ich wusste überhaupt nichts mehr.
Am Ende willigte ich ein, mir die Klinik wenigstens mal anzusehen. Gemeinsam mit Horst und Wolfgang fuhr ich dort hin. Die Leiterin, eine Trauma-Psychologin, die mich auch behandeln sollte, zeigte uns die Klinik. Ich mochte sie nicht, vom ersten Moment an nicht. Während des Rundgangs machte ich völlig dicht. Die ganze Atmosphäre war bedrückend, eine Mischung aus Krankenhaus und Knast. Ich klammerte mich immer fester an Wolfgangs Arm, fing irgendwann sogar an zu weinen. Hier würde ich es keine zwei Tage aushalten, das wusste ich.
Beim Abschlussgespräch in ihrem Büro sagte ich der Psychologin, dass ich keinesfalls stationär hierherkommen würde. Meinetwegen würde ich mir »draußen« einen Therapeuten suchen, aber hier, das gehe gar nicht. Sie sah mich lange und eindringlich an. »Gut, Mandy. Ich will sehen, wen ich für dich finden kann. Die Notwendigkeit an sich ist dir aber klar, oder?« War sie mir natürlich nicht. »Eine Traumatisierung, die nicht behandelt wird, kann schwerwiegende Folgen haben. Nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber übermorgen. Verdrängung funktioniert in diesem Fall nicht, zumindest nicht auf Dauer. Sie macht alles nur noch schlimmer.«
Sie sollte recht behalten mit dem, was sie an jenem Tag zu mir sagte.
Ich wollte davon nichts hören. Musst dich halt zusammenreißen, dann kriegen die anderen auch nicht mit, wenn es dir nicht gutgeht. Kontrolle, es geht doch immer um Kontrolle. Darum, den Schein zu wahren. Darin wurde ich tatsächlich besser. Im Internat schaffte ich es meistens, mir nichts anmerken zu lassen, wenn es mir so richtig scheiße ging. Nur einem konnte ich nichts vormachen. Herrn Meiling, dem Internatsleiter.
Jeden Mittag, wenn sich die Schüler im Speisesaal des Internats trafen, fühlte ich mich von ihm beobachtet. So gut es ging, mied ich den direkten Blickkontakt mit ihm, drückte mich schnell mit meinem Tablett an ihm vorbei. Aber er hatte sehr feine Antennen für das, was mit mir los war. Als ich ihm einmal besonders auffällig aus dem Weg gegangen war und mich ins hinterste Eck des Speisesaals verdrückt hatte, kam er mir einfach hinterher. Er tippte mir auf die Schulter und sagte: »Kommst du bitte nach dem Essen gleich zu mir ins Büro?«
Ich stammelte nur ein schüchternes »Ja«, obwohl ich ihn am liebsten angeschrien, hätte. Steht’s mir jetzt schon auf die Stirn geschrieben, oder was? Mandy, die Mandy, die packt’s mal wieder nicht. Und für den Fall, dass die anderen das bis dahin noch nicht mitbekommen haben – jetzt haben sie’s. Großartig. Großes Kino, Herr Meiling, wirklich.
Ich fühlte mich ertappt und fand das beschissen. Mit einer Mischung aus Wut und Angst klopfte ich an seine Tür. Er saß ganz entspannt hinter seinem Schreibtisch und sagte: »Setz dich doch. Meinst du nicht, wir sollten mal in Ruhe über alles reden?«
Nein, meine ich nicht.
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und blickte trotzig auf den Boden.
Er sah mich nur schweigend an.
Super, das kann ja dauern.
Ich richtete mich auf und verschränkte die Arme. Reden. Worüber denn? Ah, auf dem Foto da, das muss seine Frau sein. Sieht ganz nett
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