Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
nun verabredet mit dem Mann, der mir den Kopf verdreht hatte und mich alles um mich herum vergessen ließ. Ich gab Anke gegenüber vor, spazieren gehen zu wollen. Ich merkte, dass sie unsicher war, aber sie ließ mich gehen. Ich trabte aufgeregt los. Wolfgang wartete schon vor der Sparkasse. Wir begrüßten uns, standen etwas unschlüssig herum, dann schlug er vor, gemeinsam nach Koblenz ans Deutsche Eck zu fahren. Ich ahnte, dass mein Ausflug noch Folgen haben würde, traute mich aber nicht, irgendetwas dagegen zu sagen. Ich wollte ja mit ihm zusammen sein, wäre wahrscheinlich auch mit ihm nach Buxtehude gefahren.
Auf der Fahrt wanderte seine Hand in Richtung meines Oberschenkels. Wütend schlug ich sie weg. »Ey, was soll das!« Er sah mich überrascht, aber keineswegs verärgert an.
Die Zeit mit ihm verging wie im Flug, ich sah nicht einmal auf die Uhr. Es war bereits dunkel, als er mich wieder an der Sparkasse absetzte. Wolfgang drückte meine Hand, er spürte, dass es für einen Kuss noch zu früh war. Trotzdem hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Die flatterten allerdings eilig davon, als ich zu Hause die Tür öffnete.
Anke und ihr Mann waren völlig aufgelöst. Meine Pflegeeltern tobten, konnten sich kaum noch beruhigen. Stundenlang hatten sie die ganze Umgebung abgesucht, weil sie glaubten, ich hätte mir etwas angetan. »Mandy, verdammt noch mal. Du wolltest kurz spazieren gehen! Was sollen wir denn denken, wenn du erst Stunden später zurückkommst? Bei all dem, was hier in den letzten Wochen los war?« Aufgrund meiner unkontrollierten Heulattacken, der geistigen Abwesenheit, der Fress- und Kotzanfälle und überhaupt meiner Geschichte galt ich als stark suizidgefährdet. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie ich in dieser Situation reagiert hätte. Ich bekomme schon Zustände, wenn ich meinen Sohn vom Fenster aus nicht mehr sehen kann, weil er sich in irgendeinen Winkel des Gartens verdrückt hat.
Zu allem Überfluss hatte ein Nachbar erzählt, er habe gesehen, dass ich zu einem Mann in eine dunkle Limousine gestiegen sei. Der Super- GAU . Alle Alarmglocken mussten in den Köpfen meiner Pflegeeltern geschrillt haben. Sie sind da, sie haben sie gefunden, sie bringen sie um. Das Zeugenschutzprogramm hat nicht funktioniert, und wir sind schuld. Wir hätten die Leine kürzer halten sollen. Und, und, und.
Und was machte ich? Fühlte mich unverstanden, gegängelt, wollte nicht sagen, wo ich gewesen war, und schon gar nicht, mit wem. Ich hatte überhaupt kein Gespür dafür, was sie durchgemacht hatten. Ganz nach dem Motto: Die Freiheit nehm ich mir, ihr könnt mir gar nichts.
Konnten sie doch! Mein unangemeldeter Ausflug hatte zur Folge, dass ich noch am selben Abend zur Familie des Vereinsvorsitzenden zurückmusste. Ich fühlte mich abgeschoben und abgewiesen, einmal mehr unverstanden.
Hätte ich einfach erzählen sollen, dass ich jemanden kennengelernt habe, »Du weißt schon, Matthias Reim aus der Disko«? Ein Mann, rund zwanzig Jahre älter? Wie hätte das denn ausgesehen?
Ich litt wie ein Hund darunter, nicht mehr bei Anke zu sein. Ich hatte sie tierisch enttäuscht und das Gefühl, das nie wiedergutmachen zu können. Ich fühlte mich schlecht, weil ich sie angelogen hatte, gleichzeitig fand ich es mies, dass sie mich beim ersten Problem »abgeschoben« hatte. Ich wollte nicht bei Karin und Horst sein, wo ich manchmal das Gefühl hatte, es sowieso niemandem recht machen zu können. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen Wolfgang gegenüber. Ich hatte geflunkert, was mein Alter anging, und wollte das schnellstmöglich richtigstellen, nachdem ich so plötzlich vom Erdboden verschluckt war.
Ich bat Horst, ob ich kurz telefonieren dürfe. Er sah mich erstaunt an, nickte jedoch nach einem kurzen Zögern und ging aus dem Büro. Aufgeregt wählte ich Wolfgangs Nummer. Als er abhob, sprudelte ich sofort los. Dass ich unbedingt mit ihm reden müsse, aber nicht wisse, wann und wo. Ich hätte wenig Zeit, und überhaupt sei gerade alles Mist. Doch ich würde ihn wieder anrufen. Lauter wirres Zeug.
Kaum hatte ich das Büro verlassen, drückte Horst auf die Wahlwiederholungstaste. Ich hatte keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gab, zu Hause hatten wir kein Telefon.
Am nächsten Tag klingelte es an der Tür. Ich eilte aus meinem Zimmer in der Hoffnung, dass Anke draußen stehen könnte. Horst war schneller gewesen. Als er öffnete, traf mich fast der Schlag. Draußen stand Wolfgang, verlegen grinsend,
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