Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
die Hände in den Hosentaschen vergraben. Horst bat ihn herein – und schickte mich zurück auf mein Zimmer. Wie ein ungezogenes Kind. Er würde mich holen, wenn sie fertig seien. Ich schwankte zwischen Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit und Panik. Der nächste Fehler, ich hatte schon wieder Mist gebaut. Wieder gegen eine Regel verstoßen, auch noch gelogen. Wie ein Tier im Käfig tigerte ich hin und her. Die Minuten verrannen nur langsam. Was hatten die alles zu bereden? Wieso war Wolfgang überhaupt hier? Ich zermarterte mir den Kopf, fand aber keine Antwort auf meine Fragen.
Endlich hörte ich Horst nach mir rufen. Als ich die Küche betrat und unsicher von einem zum anderen sah, war klar, dass Wolfgang Bescheid wusste. Wie viel und was genau er wusste, erfuhr ich, nachdem Horst uns allein gelassen hatte.
Wolfgang nahm meine Hände, sah mich lange und sehr ernst an und sagte: »Es ist alles okay, alles wird gut. Du musst keine Angst haben.«
Er erzählte, dass Horst ihn angerufen und er am Anfang überhaupt nicht begriffen habe, worum es ging. Wie und wo er mich kennengelernt habe, dass er kein Umgang für mich sei und die Finger von mir lassen solle. Dass das hier kein Spiel sei, ich unter seinem Schutz stünde, er für meine Sicherheit verantwortlich sei. Als er endlich zu Wort kam, schlug Wolfgang ein Treffen vor. Er würde kein Spiel spielen, habe Gefühle für mich, die er nicht einfach nach Belieben abstellen könne. Am Ende habe Horst eingewilligt.
Während des Gesprächs selbst schwieg Horst über meine Vergangenheit, er wollte keinerlei Risiko eingehen. Das Einzige, was er sagte, war, dass er niemandem mitteilen dürfe, wer ich sei und wo ich wohnte, eine Schutzmaßnahme, um mein Leben nicht zu gefährden. Dann bombardierte er Wolfgang mit Fragen. Er erfuhr, dass er gerade in Scheidung lebte, einen Job und ein geregeltes Einkommen hatte. Ich weiß nicht, worüber sie sonst noch redeten, am Ende muss Horst jedenfalls den Eindruck gewonnen haben, dass Wolfgang kein schlechter Kerl ist, sondern einer, der mir guttun könnte.
Von da an besuchte er mich regelmäßig – er war mein Bodyguard, mein Fels, der Mann, bei dem ich mich sicher fühlte. Es dauerte über ein halbes Jahr, bis ich zulassen konnte, dass wir uns auch körperlich etwas näher kamen. Ich mochte seine Nähe, mehr als Kuscheln war aber nicht. Ich ertrug Berührungen nur schwer. Den Grund dafür suchte ich bei mir. Ich mochte mich nicht, mochte vor allem meinen Körper nicht. Er gehörte nicht zu mir, war Objekt, ein Stück Fleisch. Getreten, geschunden, verletzt. Dass er auch schöne Gefühle auslösen konnte, war mir fremd. Ich hatte die Zeit im Jasmin nur deshalb durchgestanden, weil ich ihn von mir abgetrennt, meine Emotionen gekappt hatte. Es gab keine Verbindung zwischen meinem Körper und meinem Ich.
Wolfgang hatte viel Geduld mit mir und Verständnis, trotzdem wusste ich, dass das nicht ewig so gehen würde. Nachdem ich mich einmal überwunden hatte, kam ich etwas besser mit Nähe zurecht, schlafen konnte ich aber nur mit ihm, wenn es stockdunkel war. Auch beim Ausziehen musste das Licht aus sein, ich konnte mich nicht nackt zeigen.
Später sagte Wolfgang mir einmal, er habe das gar nicht so schlimm gefunden, eher reizvoll. Eine Frau, die eben nicht jeder haben könne. »Ich wollte einfach herausfinden, was unter diesen ganzen Schichten steckt – und damit meine ich nicht nur deine weiten Klamotten«, meinte er grinsend. Seine Worte machten mich stolz. Ich war es wert, dass man auf mich wartete. Er meinte mich, mich ganz allein.
*
Nach zwei Wochen bei Horst und Karin durfte ich wieder zurück zu Anke und ihrer Familie. Sie hatte mir verziehen, ich war überglücklich. Die Woche über war ich im Internat, an den Wochenenden warteten meine Liebe auf mich und meine Pflegeeltern. Ich hätte glücklich sein können, nach außen sah auch alles ganz wunderbar aus. Ich hängte mich in der Schule richtig rein, war ehrgeizig und paukte in jeder freien Minute. Ich musste fast ein ganzes Schuljahr aufholen. Meine Leistungen waren gut, ich hätte allen Grund gehabt, stolz auf mich zu sein.
Aber die Vergangenheit holte mich mit Riesenschritten ein. Nachts verschanzte ich mich hinter meinen Büchern, nur um ja nicht einzuschlafen. Ich hatte Angst vor den Träumen, kämpfte mit völliger Erschöpfung und Übermüdung. Die Angst nahm mit jeder Nacht zu, in der ich doch irgendwann weggedämmert war und schweißgebadet aufwachte.
Die
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