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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Kopp
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Zustand verschlechterte sich zusehends, ich konnte nicht mehr zum Einkaufen gehen, in manchen Wochen schaffte ich es nicht einmal zur Sitzung mit meinem Therapeuten. Ich zog mich zurück in mein Schneckenhaus und mauerte mich immer stärker ein. Bei einer Größe von 1,70 wog ich gerade noch 48 Kilo. Ich hatte jeden Halt verloren, die Vergangenheit fraß meine Zukunft auf. Das Einzige, was mich damals am Leben hielt, war mein Sohn. Hätte es ihn nicht gegeben, hätte ich mich wohl umgebracht.
    Mein Therapeut mühte sich nach Kräften, aber ich blieb tief unten im Loch sitzen. Über Jahre.
    2004 war ich an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Ich hatte aufgehört zu malen, etwas, das mir immer dabei geholfen hatte, mich auszudrücken. Ich war leer, fühlte mich wie tot. In mein Heft habe ich damals folgenden Text geschrieben:
Wieder denke ich daran, wieder Bilder in meinem Kopf,
die mir die Luft zum Atmen nehmen.
Meine Angst, meine Ohnmacht hängt wie ein Kloß in meinem Hals.
Ich will schreien, weinend um mich schlagen.
Und bin doch regungslos, fühle mich wie gelähmt.
Ich will nicht mehr, bin kraftlos und leer,
sitze in einem Loch, komm nicht raus.
Wieder kann ich kaum atmen,
ich werde erdrückt, überrollt von Erinnerungen,
die ich nicht mehr ertragen kann und will.
    Während einer Sitzung fragte mich mein Therapeut auf den Kopf zu, ob ich mich umbringen wolle. Ich verneinte zwar, aber er glaubte mir nicht. Ich bräuchte Abstand, von allem, sagte er. Und dann stellte er mich vor die Wahl: Entweder ich würde freiwillig in eine Klinik gehen, oder er würde mich einweisen lassen.
    *
    In der Klinik bekam ich ein Einzelzimmer. Ich wusste nicht, dass das wegen meiner Schlafstörungen veranlasst worden war, merkte nur, dass mich die anderen schräg ansahen. Aha, Privatpatientin, die muss es ja dicke haben. Meine Besuche im Speisesaal gerieten zum Spießrutenlauf. Manchmal musste ich auf dem Weg zum Tisch mehrmals stehen bleiben und das Tablett absetzen. Schweißausbrüche, Schwindelgefühle, Zittern. Dass die anderen mir dabei zusahen, manche nur dumpf glotzend, andere interessiert, machte es noch schlimmer. Schwäche zeigen ging gar nicht. Jeder noch so kleine Moment des Kontrollverlusts war ein Alptraum. Ich wollte nicht, dass irgendjemand mich so sah. Mitleid machte mich wütend. Als nach ein paar Tagen ein Mann aufstand, um mir zu helfen, ein kräftiger Kerl mit Glatze, der mich an Meister Proper erinnerte, rissen wir so lange an meinem Tablett herum, bis es auf den Boden knallte. Er ließ die Arme sinken und sah mich an. Geh weg. Geh weg! Ich hab alles im Griff. Sieh, was du angerichtet hast. Tölpelhaft. Da. Jetzt kommen sie schon angelaufen.
    Ich hätte ihn würgen können. Der erste Mensch, der mir in der Klinik die Hand gereicht hatte. Und ich hatte nichts als Verachtung für diesen Mann übrig. Weil in mir nichts als Verachtung war. Weil ich schwach war, es nicht einmal auf die Reihe bekam, allein mit einem Tablett durch einen Saal zu gehen. Weil ich keine gute Ehefrau war. Meinen Sohn im Stich gelassen hatte. Versagt hatte. Wie immer. Ein Häufchen Elend. Ein Stück Dreck.
    Der Mann war in die Hocke gegangen und klaubte die Speisereste vom Boden. Ich verspürte den unbändigen Impuls, das Tablett mit dem Fuß an die Wand zu treten. Alles zertreten, mich zertreten, wie eine Schabe. Stattdessen bückte ich mich, lächelte ihn an, hob das Besteck auf und legte es zurück neben den Teller. »Schöne Bescherung, was? Hab eh keinen Hunger.« Heute ist Olaf übrigens mein bester Freund.
    In der Sitzung am Nachmittag meinte meine Therapeutin, das sei doch ein großer Fortschritt gewesen.
    »Ich meine damit, dass Sie zum ersten Mal, seit Sie hier sind, Hilfe angenommen haben. Heute Mittag, mit dem Tablett.«
    Großartig, hat sie meine Entgleisung auch noch gesehen.
    Die erste Zeit in der Klinik war eine Tortur. Nachts kam ich gar nicht erst zur Ruhe, tigerte in meinem Zimmer herum wie zu meinen schlimmsten Zeiten im Internat. Tagsüber igelte ich mich ein. Die Stunden vergingen quälend langsam, ich hatte in den ersten vierzehn Tagen – außer den Gesprächen mit den Psychologen – keinerlei Tagesprogramm. Bei den Gesprächen selbst ging es weniger um die eigentliche Ursache meiner Probleme als um meine gegenwärtige Situation. Zwischen mir und Wolfgang war eine Kontaktsperre verhängt worden, nichts sollte mich ablenken. Erst später fand eine gemeinsame Therapiesitzung für uns als Paar statt. Dabei wurde er auch

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