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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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ihm kaputtgegangen, als seien wir kaputtgegangen.
    Am nächsten Morgen wurden wir ins Büro des Chefarztes gebeten. Er versuchte, uns so schonend wie möglich beizubringen, dass Amys winziger Körper obduziert werden müsse, erst dann könnten wir ihn zur Beerdigung abholen. Ich kann gar nicht sagen, was für ein Scheißgefühl es ist, so eine Einwilligung zu unterschreiben. Und noch viel weniger, was für ein Scheißgefühl es ist, dass dein eigenes Kind vielleicht einen unnötigen Tod gestorben ist.
    Die nächsten Tage zu Hause liefen vor mir ab wie ein schlechter Film. Wolfgang war mit allem überfordert, ich musste mich um alles kümmern, selbst um den Termin beim örtlichen Bestatter. Ich blätterte durch die Kataloge mit den Särgen, als könnte ich nicht lesen.
    »Wie soll die Ausstattung sein? Eher schlicht? Farbig? Wollen Sie einen Kranz oder lieber einen Bund mit Blumen? … Soll ein Spruch auf das Band? … Was soll in der Anzeige stehen?« Die Fragen hämmerten auf mich ein, ich brachte keinen Ton heraus.
    Mit dem kleinen weißen Sarg im Kofferraum fuhren wir zurück in die Klinik. Amy wog kaum ein Kilo, der Gesetzgeber erlaubt in solchen Fällen, dass die Eltern einen so kleinen Wurm selbst überführen dürfen.
    Die Beisetzung fand in kleinstem Kreis statt. Nur Wolfgang, Raphael und ich. Auf dem Band am Kranz stand: »Ruhe sanft in Gottes Hand, in Liebe Deine Eltern und Dein Bruder«.
    In den ersten Jahren ging Wolfgang nie wieder ans Grab, er verdrängte alles, sprach auch nicht darüber, was dieser Verlust mit ihm machte. Zurück zur Tagesordnung, als sei nichts geschehen. Ich blieb mit meiner Trauer allein. Raphael dagegen, der sich sehr auf seine kleine Schwester gefreut hatte, war mir in dieser Zeit sehr nah. Bis heute geht er regelmäßig auf den Friedhof, auch allein. Für mich ist der Gang zum Grab meiner kleinen Perle bis heute einer der schwersten und schmerzhaftesten überhaupt, auch wenn alles schon Jahre zurückliegt.
    Die folgende Zeit war überlagert von der Frage, was ich eigentlich noch alles auszuhalten hatte. Was das Leben für mich bereithielt, außer Schmerzen und Qualen. Das ewige Warum überlagerte alles. Ich hockte zu Hause, war schwer depressiv und quälte mich mit Selbstzweifeln. In der Nacht von Amys Tod hatte ich zum ersten Mal seit Jahren gebetet. Um Unterstützung gefleht, wie früher. Eisiges Schweigen. Nicht Gott, sondern sein Kollege aus der anderen Abteilung hatte mir die Hand gereicht. Auch wie früher.
    Alles schien wie ein Kreislauf, ein endloses Déjà-vu. Ein Hamsterrad, das sich immer schneller drehte. Aber anders als früher war ich immer weniger in der Lage, einfach weiterzulaufen. Ich fand keinen Halt mehr auf den Sprossen meines Lebens, flog vollends aus der Kurve. Wenn Raphael aus der Schule kam, riss ich mich zusammen. Sein Mittagessen stand auf dem Tisch, auch auf die Hausaufgaben hatte ich ein Auge. Ansonsten war ich weitgehend funktionsunfähig.

Im Dunkeln
Dich, du Leben, hassend gelebt und doch nie geliebt
Die Hoffnung, ganz feste will ich in mir halten
Ist die Chance zu leben, was mir jetzt nur blieb
Und die Kraft im Leben, in den nächsten Gang zu schalten
    Seit der Totgeburt musste ich regelmäßig für einen Kontrolltermin zu meiner Frauenärztin. Reine Routine. Bei einer dieser Routineuntersuchungen stellte sie fest, dass ich erneut schwanger war. Eine Risikoschwangerschaft, bei meiner Vorgeschichte. Ich will es kurz machen: Die neun Monate bis zur Geburt meines Sohnes Luis waren ein einziges Auf und Ab. Ich war ständig den Tränen nahe, musste viel liegen, war von der Angst, dass wieder etwas schiefgehen könnte, zerfressen. Als ich ihn im September 2006 in den Armen hielt, war alles vergessen. Er war kerngesund, vom ersten Augenblick an ein Wonneproppen. Er war Amy wie aus dem Gesicht geschnitten. Endlich schien es das Leben gut mit mir zu meinen, unser Kleinfamilienidyll war komplett.
    Wolfgang kümmerte sich rührend um den Kleinen, ebenso Raphael, ich fand sogar Zeit und Muße, wieder den Pinsel in die Hand zu nehmen und zu malen. Das Malen war für mich ein Ventil, das mir dabei half, sogar das Zittern unter Kontrolle zu kriegen, wenn sich die Erinnerungen in mein Bewusstsein graben wollten. Alles war so neu und gut, dass ich kaum darüber nachdachte, dass etwas dieses Glück zerstören könnte. Aber wer war ich, dass ich glücklich sein durfte? Wer war ich, dass ich mich in Sicherheit wiegen konnte?
    Die Richtung, aus der der nächste
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