Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
und umrahmte sein Gesicht, dessen Augen der bevorstehenden Rede entgegenfieberten.
*
»Verehrte Brüder und Schwestern im Herrn … Ich trete heute vor euch, um euch die wahren Worte unseres allmächtigen Herrn Jesus Christus zu verkünden, so wie es mein Bruder Kilian vor mehr als tausend Jahren in dieser Stadt getan hat. Ich tue dies, weil damals wie heute unser Glauben einer großen Gefahr ausgesetzt ist.«
Alvarez zeigte für alle sichtbar ein Schreiben des verstorbenen Papstes an die deutschen Kardinäle, das Wochen zuvor auf der Bischofskonferenz für Aufsehen gesorgt hatte. Die vorderen Reihen erkannten das päpstliche Wappen schnell. Geflüster erfüllte das Kirchenschiff.
Alvarez blätterte die Seiten durch, bis er die richtige Stelle gefunden hatte, und las vor. »Dankbar stelle ich fest, dass die Kirche in Ihrem Lande eine solide organisatorische Struktur besitzt. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass sich immer mehr Menschen vom aktiven Glaubensleben zurückziehen oder nur noch Teile des Evangeliums und der kirchlichen Lehre annehmen. Ein Glaubensschwund droht die Kirche von innen her auszuhöhlen, sodass sie zwar nach außen hin stark erscheint, aber innerlich kraftlos wird. Jene, die im Namen der Kirche den Dienst der Lehre und der Leitung ausüben, müssen fest im Glauben der Kirche verankert sein. ›Das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube …‹«
Alvarez blätterte weiter. »… dass es trotz vieler Klarstellungen weiterhin Vorfälle in Ihrem Lande gibt, die nicht mit den lehrmäßigen und disziplinären Vorgaben der Kirche übereinstimmen. Sie werden auf lange Sicht den Ortskirchen schaden, weil sie dem inneren Wesen der Kirche entgegenstehen.«
Er schloss die Unterlagen, schaute durch die Bänke, in denen er viele Häupter erkannte, die den Papstworten gehorsam zustimmten.
»Was würde Jesus dazu sagen?«, rief er ihnen zu. Seine unvermittelt lautstarke Anklage schallte durch den Dom, sodass auch der Letzte in den hinteren Reihen aufmerkte.
Alvarez nahm das Schreiben des Papstes, hielt es für alle sichtbar hoch und warf es ihnen schließlich vor die Füße. Raunen mischte sich in das Flattern der Blätter, einzig unterbrochen von den scharfen und anklagenden Worten Alvarez’.
»Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen.
Wehe euch, ihr zieht über Land und Meer, um einen einzigen Menschen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn er gewonnen ist, dann macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, der doppelt so schlimm ist wie ihr selbst.
Wehe euch, ihr bringt die Witwen um ihre Häuser und verrichtet lange, scheinheilige Gebete. Deshalb wird das Urteil, das euch erwartet, umso härter sein.
Wehe euch, ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusammengeraubt habt. Wehe euch, ihr seid blinde Führer!«
Ein aufgebrachter Zwischenrufer ging lautstark dazwischen.
»Schaut ihn an, den verlausten Bruder, hält sich für Jesus und lästert Papst und Kirche!«
Alvarez packte seinen Stock, schlug ihn mit Macht auf den Stein und sprach: »Und Jesus sprach: Gebt Acht, dass euch niemand irreführt. Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: ›Ich bin der Messias‹, und sie werden viele in die Irre führen. Amen, das sage ich euch: Kein Stein wird hier auf
dem anderen bleiben. Alles wird niedergerissen werden!«
Eine Klinge ruhte über meinem Nacken; bereit, mich geradewegs in die Hölle zu schicken.
»Bekenne!«, lautete die letzte Aufforderung, »Nie und nimmer« meine letzten Worte, »Dann brenne!« das Urteil.
Das Schwert Gottes, ein Meter rasiermesserscharfer Stahl, fuhr auf mich herab und drang an meiner rechten hinteren Halshälfte ein, durchtrennte mühelos die Wirbel und die Luftröhre. Mein Kopf kippte nach vorne, und ich folgte zur Seite weg. Mein Herz schlug weiter, ich spürte es genau, und pumpte den letzten Tropfen Blut aus mir
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