Die Zeit-Odyssee
und
altersfleckig und hing ihm in weichen Falten von den Knochen;
seine Augen waren von einem so hellen Blau, dass sie fast
transparent wirkten. Er erweckte den Eindruck, als wäre er
vom Alter vergeistigt, und all seine Substanz hätte sich
verflüchtigt.
»Tja«, sagte Sable, »keinen Tag jünger
als neunzig. Aber sieh dir die beiden genauer an, Kol! Vergiss
mal den Altersunterschied. Schau dir die Augen an, den
Knochenbau, das Kinn…«
Kolja starrte hin und wünschte sich, es würde mehr
Licht in den Tempel fallen. Die Schädelform des Jungen
verbarg sich unter einem Wust schwarzen Haares, aber sein
Gesicht, die hellblauen Augen… »Sie sehen sich
ähnlich.«
»Allerdings«, stellte Sable trocken fest.
»Kolja, wenn man sich an einen Ort wie diesen
zurückzieht, dann ist es fürs ganze Leben.
Man kommt als Anwärter mit neun oder zehn, man bleibt
hier, beschäftigt sich mit Gebeten und Gesängen und tut
das alles auch noch mit neunzig, wenn man so alt wird.«
»Sable…«
»Die beiden sind ein und dieselbe Person! Derselbe Mann, der junge Schüler und der alte Lama,
zusammengebracht von Zeitdefekten. Und der Junge weiß, dass
er eines Tages, wenn er alt ist, sein jüngeres Ich über
die Steppe herbeiwandern sehen wird.« Sie grinste.
»Sie scheinen durchaus klarzukommen damit, wie? Na ja,
vielleicht muss man die buddhistische Philosophie gar nicht
überbeanspruchen, um solche Vorgänge darin
unterzubringen. Es ist ja schließlich nichts anderes als
ein Kreis, der sich schließt…«
Die Mongolensoldaten suchten flüchtig nach Beute, aber es
war von vornherein klar, dass hier nichts zu holen war
außer ein paar essbaren Krümeln und den wertlosen
Schätzen der Frömmigkeit: Gebetsmühlen, heilige
Texte.
Also machten die Mongolen Anstalten, die beiden Mönche zu
töten – ohne Gefühlsregungen, einfach als
Routineverfahren. Töten, das war schließlich ihr
Metier. Kolja nahm seinen ganzen Mut zusammen und intervenierte
beim Berater Yeh-lüs, um der Sache Einhalt zu gebieten.
Und so überließen sie den Tempel und seine Bewohner
ihrem Dahindösen und all ihrer Widersinnigkeit. Das Heer zog
weiter.
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DIE FISCHFRESSER
Nach einem dreiwöchigen Marsch entlang der Küste des
Golfes ließ Eumenes die Neuzeitmenschen wissen, dass der
Suchtrupp ein bewohntes Dorf entdeckt hatte.
Getrieben von Neugier und dem Bedürfnis nach Abwechslung
vom Meer schlossen sich Bisesa, Abdikadir, Josh, Ruddy und eine
kleine Abteilung britischer Soldaten unter Korporal Batson einem
Voraustrupp an der Spitze des Heerwurms an, zu dem Alexanders
Armee sich auseinander gezogen hatte. Alle Besucher aus der
Zukunft waren unauffällig mit Feuerwaffen gerüstet. Als
sie von Bord gingen, sah ihnen Casey, dessen Bein immer noch
nicht belastbar war, mit neidischen Blicken nach.
Es war ein ganzer Tagesmarsch bis zu dem Dorf, und eine arge
Schinderei noch dazu. Obzwar Ruddy als Erster zu murren begann,
waren sie alle bald stark mitgenommen, denn wenn sie sich zu nahe
der Küste vorwärts bewegten, ging es
ausschließlich über salzigen, steinigen Boden, auf dem
nichts wuchs, und wenn sie sich landeinwärts wandten,
stießen sie auf Sanddünen, über die ein
Vorwärtskommen auch ohne Regen äußerst
beschwerlich gewesen wäre. Und immer waren sie in Gefahr,
von plötzlichen Sturzfluten aus dem Landesinneren
überrascht zu werden, denn das Wasser strömte
überall aus randvollen Flussläufen heran. Sobald der
Regen aufhörte, stiegen riesige Wolken von Pferdebremsen in
die Luft.
Auch Schlangen bedeuteten eine ständige Gefahr. Keiner
der Neuzeitmenschen war in der Lage, die verschiedenen Arten zu
benennen, die es hier gab – aber da die Schlangen aus jeder
Ära ihres Millionen Jahre umspannenden Evolutionszeitraumes
stammen konnten, war das wohl kaum verwunderlich.
Böse starrte Bisesa die reglos schwebenden Augen an, die
anscheinend mühelos über das schwierigste Terrain
verstreut waren und Bisesas mühseligen Kampf ums Vorankommen
verfolgten.
Als der Tag zu Ende ging, kamen sie in die Nähe des
Dorfes.
Zusammen mit den mazedonischen Soldaten kletterten Bisesa und
die anderen den Grat einer Felsklippe dicht an der Küste
hoch, um einen ersten Blick darauf zu werfen. Es war ein armselig
wirkendes Nest; kleine Hütten mit mutlos herabhängenden
Dächern hockten vierschrötig auf dem steinigen
Untergrund, und ein paar magere Schafe weideten auf den
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