Die Zeit-Odyssee
die
Beine der Pferde umspielte wie Meereswellen. Als sich die Welt
rund um ihn auftat und die Unendlichkeit Zentralasiens
schließlich selbst Dschingis Khan und seine ehrgeizigen
Ziele zu belanglosen Nichtigkeiten reduzierte, verspürte
Kolja große Erleichterung.
Sie begegneten keinem Menschen. Auf dem langen Weg durch die
riesige Ebene konnte man manchmal die kreisrunden Abdrücke
erkennen, die von Jurten zurückgelassen worden waren, die
Brandnarben vergangener Lagerfeuer, die Spuren kleiner
Dörfer, die zusammengepackt hatten und zu saftigerem
Weideland weitergezogen waren. Die Steppe war zeitlos, die
Menschen lebten hier seit Ewigkeiten auf die gleiche Weise, und
diese Spuren konnten von Hunnen stammen, von Mongolen oder sogar
von Kommunisten aus der Sowjet-Ära – und diejenigen,
die diese Schrammen im Gras hinterlassen hatten, waren
möglicherweise über die Steppe und direkt in eine neue
Zeit gestapft. Vielleicht, dachte Kolja, würden sie alle zu
Nomaden werden, sobald die letzten Fetzen von Zivilisation
abgelegt waren, wenn die Erde vergessen und nichts geblieben war
als Mir, und auf diesem gewaltigen Abfallhaufen der
Menschheitsgeschichte enden.
Aber nirgends Menschen. Manchmal sandte Dschingis Suchtrupps
aus, die aber niemanden fanden.
Und dann, verloren inmitten der öden Steppe,
stießen die Späher unvermutet auf einen Tempel.
Eine Patrouille wurde ausgeschickt, um Nachforschungen
anzustellen; Yeh-lüs Wunsch entsprechend gehörten ihr
auch Sable und Kolja an, in der Hoffnung, der Durchblick der
beiden möge sich als nützlich erweisen.
Der Tempel war ein kleines, schachtelartiges Gebäude mit
hohen Toren, die mit reichen Schnitzereien und mit
Türklopfern in Form von Löwenköpfen versehen
waren. Vor dem Tempel befand sich ein überdachter Vorbau,
dessen auf lackierten Säulen ruhende Deckenbalken mit
goldenen Schädeln geschmückt waren.
Kolja, Sable und einige Mongolen traten vorsichtig durch das
Tor. Die Wände im Tempelinnern bestanden aus Holz, und die
Luft war geschwängert von Weihrauch; auf niedrigen Tischen
lagen Schriftrollen zwischen allerlei Überresten einer
Mahlzeit. Das Gefühl des Eingeschlossenseins war
beklemmend.
»Was denkst du? Ein Buddhistentempel, oder?«,
stieß Kolja – unwillkürlich flüsternd
– hervor.
Sable hatte keine Hemmungen, ihre Stimme zu erheben.
»Ja. Und zumindest ein paar von denen dürften noch
existieren. Aber keine Ahnung, von wann der Laden stammt.
Buddhisten sind so zeitlos wie Nomaden.«
»Nicht ganz«, widersprach Kolja mit grimmigem
Tonfall. »Die Sowjets gaben sich alle Mühe, die
Mongolei von sämtlichen Tempeln zu säubern. Dieser Ort
muss dem zwanzigsten Jahrhundert zeitlich
vorangehen…«
Zwei Gestalten kamen zaghaft aus dem Dunkel im hinteren Teil
des Tempels. Die Mongolenkrieger zogen ihre Dolche, doch ein
scharfes Wort von Yeh-lüs Berater ließ sie
innehalten.
Erst hielt Kolja die beiden für Kinder, so ähnlich
waren sie einander in Größe und Statur, doch als sie
ans Licht kamen, sah er, dass es sich nur bei dem einen der
beiden um ein Kind handelte, beim anderen jedoch um einen alten
Mann. Der Alte, offensichtlich ein Lama, trug eine rote
Seidenrobe und Sandalen und hielt eine Gebetsschnur aus
Bernsteinperlen in der Hand. Er war unglaublich mager; seine
Hände ragten aus den Seidenärmeln wie die Vogelklauen.
Das Kind war ein Junge, nicht älter als zehn, ebenso
groß wie der Alte und fast ebenso dünn. Auch er trug
eine Art rote Robe – aber seine Füße steckten in
Turnschuhen, bemerkte Kolja mit einiger Verblüffung. Der
Lama stützte sich mit einem dürren Arm auf die Schulter
des Jungen, aber er sah so zerbrechlich aus, dass sein Gewicht
wohl selbst für ein Kind keine Last bedeutete.
Der Lama begrüßte die Besucher mit einem zahnlosen
Grinsen und begann mit heiser krächzender Stimme zu
sprechen. Die Mongolen versuchten zu antworten, aber es war bald
klar, dass es keine Verständigungsmöglichkeit gab.
Kolja flüsterte Sable zu: »Schau dir die Schuhe des
Jungen an. Vielleicht ist dieser Ort hier weitaus jüngeren
Datums, als wir denken!«
Sable grunzte nur. »Die Schuhe sind jüngeren
Datums. Beweist gar nichts. Wenn die beiden ganz allein und
verlassen hier leben, muss der Junge ja öfter mal
draußen herumstreifen und nach Essbarem
suchen…«
Kolja flüsterte: »Der Lama ist uralt!« Und
das war er tatsächlich; seine Haut war papierdünn
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