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Die Zeit-Odyssee

Die Zeit-Odyssee

Titel: Die Zeit-Odyssee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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zum
Khaiberpass.
    Aber die Provinz selbst war mehr als nur ein Durchzugsgebiet
für fremde Heerscharen. Sie hatte eine eingesessene
Bevölkerung, die dieses Land als ihr Eigen betrachtete: die
Paschtunen, ein kämpferisches Volk, wild, stolz und klug.
Die Paschtunen, die Ruddy »Pathanen« nannte, waren
fromme Moslems und an ihren eigenen Ehrenkodex – den Pachtunwali – gebunden. Sie waren in Stämme und
Clans gegliedert, und genau dieser Umstand verlieh ihnen
Widerstandsfähigkeit und Beweglichkeit. Wie schwer auch eine
Niederlage wog, die dem einen oder anderen Stamm zugefügt
wurde, immer strömten noch mehr Krieger mit ihren
altmodischen langläufigen Gewehren, den Dschesails, aus den Bergen nach. Josh hatte schon etliche Paschtunen zu
Gesicht bekommen, die von den Briten gefangen genommen worden
waren, und er hielt sie für die fremdartigsten Menschen,
denen er je begegnet war. Dennoch hegten die britischen Soldaten
ihnen gegenüber einen gewissen wachsamen Respekt; die
schottischen Highlander behaupteten sogar, der Pachtunwali sei gar nicht so verschieden vom Ehrenkodex ihrer heimatlichen
Clans.
    Im Laufe der Jahrhunderte waren in diesem Landstrich, den ein
Regierungsbeauftragter einmal »diese ungestutzte
Dornenhecke« genannt hatte, zahlreiche Invasionsheere in
Schwierigkeiten geraten. Und selbst jetzt reichte die Macht des
gewaltigen britischen Imperiums nicht viel weiter als bis an die
Ränder der Straßen; ansonsten wurde das Gesetz vom
jeweiligen Stamm und von der Waffe diktiert.
    Und nun war das Grenzgebiet wieder einmal Austragungsort
internationaler Interessenskonflikte. Erneut hatte ein
missgünstiges Imperium ein gieriges Auge auf Indien geworfen
– diesmal das Russland des Zaren. Das Anliegen der Briten
war klar: Unter keinen Umständen durfte dem Zarenreich oder
dem von Russland unterstützten Persien gestattet werden,
sich in Afghanistan zu etablieren. Dieses Ziel vor Augen hatten
die Briten jahrzehntelang versucht sicherzustellen, dass
Afghanistan von einem ihren Interessen wohlgewogenen Emir
beherrscht wurde – und waren entschlossen, gegen
Afghanistan selbst Krieg zu führen, falls dies misslang.
Doch nun schien schließlich die seit langem vor sich hin
schwelende Konfrontation heftig aufzulodern. In diesem Monat
hatten sich die Russen langsam aber stetig durch Turkestan
vorangeschoben und näherten sich nun Pandscheh, der letzten
Oase vor der afghanischen Grenze – einer obskuren
Karawanserei, die plötzlich im Mittelpunkt des
Weltinteresses stand.
    Josh fand dieses internationale Schachspiel überaus
erschreckend. Ausschließlich der Zufall seiner
geografischen Lage bestimmte diesen Landstrich zu einer Gegend,
wo sich große Reiche aneinander reiben mussten, und trotz
des kühnen Widerstandes der Paschtunen zerquetschte dieser
entsetzliche Druck jene Menschen, die das Unglück hatten,
hier geboren zu sein. Manchmal fragte sich Josh, ob das immer so
bleiben würde, ob es diesem dürren Land für alle
Zeiten beschieden war, ein Kriegsschauplatz zu sein – und
er fragte sich, welche Schätze es wohl barg, die so
heiß umstritten sein könnten.
    »Aber vielleicht«, so hatte er einmal zu Ruddy
gemeint, »werden die Menschen sich eines Tages vom Krieg
abwenden, ihn beiseite werfen wie ein Spielzeug, dessen ein Kind
überdrüssig geworden ist.«
    Doch Ruddy hatte nur durch seinen Schnurrbart geschnaubt:
»Pah! Und was werden sie dann tun? Den ganzen Tag Kricket
spielen? Josh, Männer werden immer in den Krieg ziehen, weil
Männer eben Männer sind und weil das Kriegführen
eben Spaß macht.« Josh war naiv, ein
scheuklappenbehafteter Amerikaner fern der Heimat, dem
»schleunigst die Jugend ausgetrieben« werden musste,
meinte Ruddy mit seinen neunzehn Jahren.
    Nach weniger als einer halben Stunde hatte Ruddy seinen
Kurzbericht beendet. Er lehnte sich zurück und starrte aus
dem Fenster in das rötliche Licht, die kurzsichtigen Augen
auf Bilder gerichtet, an deren Anblick Josh nicht teilhaben
konnte.
    »Ruddy, wenn es hier ernst wird – glaubst du, sie
schicken uns dann nach Peschawar zurück?«
    »Das hoffe ich doch nicht! Darum sind wir ja
hier!« Er las aus seinem Manuskript: »›Welch
eine Vorstellung: In weiter Ferne, jenseits des Hindukusch, haben
sie sich in Marsch gesetzt – in ihren grauen oder
grünen Röcken, die Armeen des Zaren unter dem
Doppeladler; bald werden sie den Khaiberpass herabziehen. Doch im

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