Die Zeit-Odyssee
Parade sich auflöste, ging Bisesa zu Ruddy; er
stand auf der Plattform des Ischtar-Tores und blickte hinaus
über die Ebene, wo die Lagerfeuer der Soldaten unter dem
düster werdenden schiefergrauen Himmel schon hoch
aufloderten. Ruddy rauchte eine seiner letzten türkischen
Zigaretten – aufgespart für diese Gelegenheit, sagte
er.
»Shakespeare, sagen Sie, Ruddy?«
»Heinrich V, um genau zu sein«,
erklärte er sichtlich stolzgebläht. »Alexander
hatte gehört, dass ich so etwas wie ein Worteschmied bin,
also rief er mich in den Palast, um ihm eine kleine Rede für
die Tommies zu schreiben. Und statt mir selbst den Kopf zu
zerbrechen, wandte ich mich lieber an den großen Barden
– und hätte mir etwas Passenderes einfallen
können? Außerdem«, raunte er, »da der alte
Knabe in diesem Universum wahrscheinlich nie existiert hat, kann
er mich auch nicht des Plagiats beschuldigen!«
»Sie sind wirklich ein ganz besonderes Exemplar,
Ruddy!«
Als es dunkel wurde, begannen die Soldaten zu singen. Die
mazedonischen Weisen waren wie üblich Klagelieder über
die ferne Heimat und die verlorenen Liebsten. Doch an diesem
Abend vernahm Bisesa auch englische Liedfetzen dazwischen,
merkwürdig vertraute Melodien.
Ruddy lächelte. »Erkennen Sie es? Es ist ein
Kirchenlied -›Preise, meine Seele, den König des
Himmelreichs‹. Im Hinblick auf unsere Lage hat wohl einer
der Tommies einen Sinn für Humor. Hören Sie
zu…«
»O Engel helfet, Ihn zu rühmen, / Ihm ins
Angesicht zu schaun; / beugt euch vor Ihm, Mond und Sonne / und
was wohnt in Zeit und Raum. / Preiset, preiset, preiset, preiset,
/ preist mit uns den Gnadengott…« Und als sie
sangen, vermischten sich die Dialekte von London, Newcastle,
Glasgow, Liverpool und dem Pandschab zu einem einzigen.
Doch ein leiser Wind wehte aus dem Osten und trug den Rauch
der Lagerfeuer über die Mauern der Stadt. Und als Bisesa in
diese Richtung blickte, sah sie, dass die Augen
zurückgekehrt waren und zu Dutzenden erwartungsvoll
über den Feldern von Babylon lauerten.
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ZUSAMMENFLUSS
Der Staub: Das war es, was Josh zuallererst sah – eine
große Wolke Staub, hochgewirbelt von galoppierenden
Hufen.
Es war um die Mittagszeit und ausnahmsweise ein klarer, heller
Tag; die näher wogende Wand aus Staub, etwa einen halben
Kilometer breit, war erfüllt von rauchigem Lichtschein,
undefinierbaren Formen. Und dann stießen sie aus dem
trüben Schleier hervor, anfangs nicht mehr als Schatten, die
nach und nach zu einer heranrasenden Bedrohung in Gestalt
gedrungener Reiter wurden. Mongolenkrieger, unverkennbar schon
auf den ersten Blick.
Ungeachtet all dessen, was ihm bisher widerfahren war, hatte
Josh dennoch nicht recht glauben können, dass wirklich und
wahrhaftig eine Horde Mongolen unter der Führung von
Dschingis Khan persönlich im Anzug war, wild entschlossen, ihn zu töten. Und doch war es so, nun konnte er es
mit eigenen Augen sehen. Er spürte, wie sein Herz heftig
klopfte.
Er hockte in einer äußerst beengten Position auf
dem Ischtar-Tor und starrte über die Ebene Richtung Osten,
von wo aus die Mongolen vorrückten. Er war in Gesellschaft
von Mazedoniern und zwei Briten, die brauchbare Ferngläser
schweizerischer Herkunft hatten. Grove hatte beiden
eingeschärft, die Linsen stets zu beschatten; man wusste
zwar nicht, über wie viel Informationen Dschingis Khan
verfügte, was die Situation hier in Babylon betraf, aber
Sable Jones kannte zweifellos die Bedeutung eines aufblitzenden
Reflexes. Von allen Leuten am besten ausgerüstet war jedoch
Josh, dem Abdikadir – der am Kampf teilnehmen würde
– seine kostbaren Nachtsicht-Ferngläser hinterlassen
hatte, die man wie Schutzbrillen aufsetzte.
Beim ersten Anblick der Mongolen war sowohl unter den
Mazedoniern als auch seitens der beiden Briten plötzlich
eine gespannte Unruhe, gemischt mit Erregung, zu spüren
– ein fast greifbarer Nervenkitzel, sozusagen. Auf dem
benachbarten Stadttor glaubte Josh den hellen Brustpanzer
Alexanders auszumachen; der König war gekommen, um dieses
erste Aufeinandertreffen der Heere mit eigenen Augen zu
verfolgen.
Die Mongolen kamen in einer breiten Front und schienen zu
Einheiten von etwa zehn Mann gruppiert. Rasch zählte Josh
die Angreifer: Die Frontlinie bestand aus etwa zweihundert Mann,
der etwa zwanzig weitere Reihen folgten – eine Streitmacht
von vier- oder fünftausend Mann, allein bei
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