Die Zeitbestie
»Guter Hauptmann, wir sind auf ausdrückliche Einladung Thomas Cromwells hier, des Earl of Essex persönlich. Nachdem ich ihn im Saracen’s Head von Chelmsford unterhalten hatte, hielt er meine Fähigkeiten für ausreichend, um auch vor Seiner Majestät aufzutreten.«
Der Hauptmann zog einen dicken Stapel Papiere aus einer Ledertasche am Gürtel. »Name!«, verlangte er zu wissen.
Polly verfolgte diesen Wortwechsel und erkannte, dass sich im Lauf der Jahrhunderte lediglich die Kleidung lumpiger Beamter geändert hatte.
»Ich bin der erstaunliche Berthold, erstklassiger Jongleur und Unterhaltungskünstler, dessen atemberaubende Verse sowohl Tränen als auch Lachen hervorzulocken vermögen und dessen Ruhm nah und fern verbreitet ist!«
Der Hauptmann zog nur eine Braue hoch und sah weiter prüfend seine Listen durch.
Berthold blickte zu Mellor zurück. »Einige Pasteten und Brot, denke ich.«
Mellor griff hinter sich und zog den Essenssack hervor. Er tastete darin umher und warf zwei Fleischpasteten Berthold zu, der sie auffing und dann so geschickt damit jonglierte, dass sie in der Luft eine Kreisbahn beschrieben, scheinbar ohne dass er sie auch nur einmal mit den Händen berührte. Mellor warf nun eine dritte Pastete hinüber, die sich dem vor Berthold kreisenden Lebensmittelrad hinzugesellte. Die ganzen übrigen Wachleute sahen inzwischen anerkennend zu, und einer von ihnen lachte schallend, als Berthold kurzfristig eine der Pasteten auf eine andere Bahn lenkte und sich einen Bissen von ihr gönnte.
»Habt Ihr jemals solche Kunstfertigkeit erblickt? Aber das ist noch gar nichts! Meine reizende Gehilfin Poliasta, die aus dem Fernen Osten stammt, wo ich meine Kunst unter dem gestrengen Blick eines großen Zauberers lernte, wird sich mir jetzt anschließen, und gemeinsam präsentieren wir Euch eine große Schau!«
Polly drehte sich der Magen um, nicht auf Grund dieses Namens, der nach einem Wandbehang klang, sondern wegen der Aussicht, sich bemerkbar zu machen. Allerdings hatte sie auch nicht erwartet, kostenlos Verpflegung zu erhalten, sodass sie das Gefühl hatte, sich wenigstens Mühe geben zu müssen. Rasch warf sie den Überzieher ab, fing den Essenssack auf, den ihr Mellor zuwarf, und sprang vom Wagen. Die Wachleute hatten eindeutig noch nie eine so seltsam gekleidete Frau mit außerdem noch makelloser Haut gesehen – sie selbst waren so pockennarbig wie Mellor und Berthold –, und sie standen nur da und gafften Polly an. Sie bemerkte, dass die Augen eines Mannes zu der Schuppe an ihrem Arm abschweiften, und fragte sich, ob das Ganze wirklich eine so gute Idee war.
»Ein Apfel würde die Verschlackung des Gaumens durch so viele Pasteten beheben«, schlug Berthold vor.
Polly griff in den Sack und holte die verlangte Frucht hervor.
»Hier ist ein Apfel für den erstaunlichen Berthold!«, verkündete sie und warf ihm das runzlige Stück Obst sachte zu.
»Seid bedankt, Lady Poliasta.« Der Apfel gesellte sich dem kreisenden Ring so elegant hinzu, wie es die dritte Pastete vorgemacht hatte. Berthold gönnte sich einen Bissen und anschließend einen weiteren Mund voll Pastete, sodass sich nun seine Wangen wölbten und ihm das Essen schon wieder aus dem Mund quoll. Für die Wachleute war das große Komödiantenkunst, und selbst der Hauptmann zeigte inzwischen Spuren von Erheiterung.
»Sir, falls Ihr jetzt Lady Poliasta Euren Dolch aushändigen würdet?«
Die gute Laune des Hauptmanns schwand für einen Augenblick dahin, bis ihm ein kurzer Blick auf seine bewaffneten Kameraden zeigte, dass dieses Ansinnen kaum ein Risiko bedeutete. Achselzuckend zog er die Klinge, drehte sie und reichte Polly den Griff. Polly nahm die Waffe zur Hand und bekam sofort Zweifel, denn das Ding war doch sehr schwer.
»Wie mit dem Apfel«, gab ihr Berthold das Stichwort.
Im Augenwinkel sah Polly etliche Adlige näher kommen, aber ihre ganze Konzentration galt der Aufgabe, Berthold den Dolch zuzuwerfen. Sie drehte die Waffe, damit sie ihn mit dem Griff voran erreichte, verrechnete sich aber beim Werfen. Der Dolch drehte sich in der Luft und ging neben ihm nieder. Aber Profi, der er war, bückte sich Berthold, fing ihn mühelos auf und brachte ihn im Zentrum des niemalsversagenden Rades in Drehung, jenes Rades, das jetzt aus drei Pasteten und einem Apfel bestand. Auch Berthold hatte, wie Polly bemerkte, offenkundig die näher kommende Gruppe bemerkt und traf Anstalten, den Einsatz zu erhöhen. Polly sah, wie die Wachleute
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