Die Zeitensegler
wagte Simon noch eine letzte Frage: »Dein Schatten«, sagte er beinahe flüsternd. »Wie …«
»Ja, mein Schatten …« Basrar nickte traurig und nahm seine Erzählung wieder auf: »Wir waren kaum aus der Stadt heraus, als der Schattengreifer stehen blieb. Er sah mich an. Lange sah er mich an, während rund um uns der Kampf einer untergehenden Stadt tobte. Plötzlich begann er etwas zu murmeln. Bis zu diesem Moment hatte er nur mit meiner Mutter gesprochen, zu mir jedoch keinen Ton gesagt. Doch diese Stimme, mit der er mich nun ansprach, war nicht mehr mit seiner vorherigen zu vergleichen. Diese Stimme war eine andere. Du wirst sie gehört haben, als er heute auf dem Schiff war. Leise sprach er nun auf mich ein. Beschwörend. Und schließlich streckte er seine Hand aus. Seine weiße Klaue. Er griff an mir vorbei, packte zu, und mir war, als ob er mir all meinen Lebensmut, all mein Glück und all meine Kraft raubte. Er nahm mir meinen Schatten.«
Simon hörte Basrar atemlos zu. Auch die anderen Zeitenkrieger lauschten wie gebannt.
»In dem Moment, als mein Zuhause unterging, hat er mir mein Leben gestohlen. Seither gehöre ich ihm. Und nicht nur ich.« Er blickte in die Runde. »Sie alle hier sind auf diese Weise zu ihm gekommen. Ich habe es ja mit ansehen müssen. Bei jedemvon euch war ich dabei. Immer war ich anwesend in dem Moment, in dem der Schattengreifer sich eure Leben genommen hat. Und eure Schatten. Ich war da, als er aus euch Zeitenkrieger gemacht hat.«
Er wandte sich wieder Simon zu: »Er greift sich deinen Schatten – dann, wenn die Not am größten ist«, sagte er mit bebender Stimme und Simon lief es bei diesen Worten eiskalt den Rücken hinunter. »Er greift sich deinen Schatten und zerrt dich hinaus aus deiner Welt. Hinaus aus deiner Zeit. Auf dieses Schiff – den Seelensammler. Und niemand kann dich retten. Niemand weiß von dir. Niemand weiß von diesem Seelensammler. Niemand weiß von uns .«
Basrar verstummte und eine bedrückende Stille entstand. Nur das gelegentliche Knacken des Feuers war zu hören und aus dem Rumpf des Schiffes heraus kam das gewohnte Vibrieren, das deutlich zu spüren war. Schweigend blickten sie in die Flammen und dachten über das nach, was sie zu hören bekommen hatten. Keiner von ihnen verspürte den Wunsch zu sprechen.
Die Krähen, die sich rund um die Zeitenkrieger und um Simon auf der Bordwand versammelt hatten, verließen nach und nach den Schauplatz. Sie flogen zu den Mastkörben, zu ihren Schlafplätzen.
Nur eine Krähe blieb auf der Bordwand sitzen. Sie war die kleinste der fünf Krähen. Simon schaute sie über die Flammen des Lagerfeuers hinweg an. Sie faszinierte ihn. Ihr Kopf ruhte auf eine ganz eigenartige Weise zwischen den Flügeln. Simon schien es beinahe, als wäre sie traurig. Starr saß sie auf der Bordwand und ihre schwarzen Augen blickten unverwandt auf Basrar. Gerade so, als habe dessen ergreifende Erzählung auch ihr Herz berührt.
»Bei mir war es ganz ähnlich«, hauchte Neferti, und in Simon verstärkte sich der Eindruck, dass sich die fünf vorher noch nie über ihre Schicksale ausgetauscht hatten. Zumindest noch nie so ausführlich.
»Auch mich hat der Schattengreifer gerettet, als ich mich in höchster Not befand.« Den Blick weiterhin starr auf das Feuer gerichtet, begann sie ihre Erzählung: »Vielleicht habt ihr ja schon von dem Pharao Echnaton und seiner Gemahlin, der schönen Königin Nofretete, gehört? Ich bin die Tochter des obersten Verwalters seiner Herdentiere. Mein Name Neferti ist übrigens von dem Namen der Königin abgeleitet. Meine Eltern verehrten diese Frau sehr und ich trage diesen Namen mit Stolz.
Wir lebten in Amarna, der Stadt der Sonne. Echnaton hatte sie aus dem Nichts aufbauen lassen. Mitten in der Wüste. Hier wollte er seine neue Religion gründen. Mit seinem Volk. Mit uns. Er hatte der Vielgötterei abgeschworen und glaubte nur noch an einen einzigen Gott: Aton. Doch die früheren Hohepriester aus Theben waren dagegen. Sie versuchten, Echnaton davon abzubringen, aber er ließ sich in seinem festen Glauben nicht beirren.
Eines Tages schließlich planten zwei der Hohepriester einen Anschlag auf den Pharao. Mein Vater hatte davon erfahren und er hatte dieses Attentat verhindern können. Doch damit zog er sich den Hass der beiden Hohepriester zu. Sie wollten seine gesamte Familie für den Frevel bestrafen …«
Neferti wandte sich Basrar zu.
»Der Rest meiner Geschichte entspricht dem, was du berichtet
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