Die Zeitensegler
hast«, sagte sie betrübt. »Plötzlich stand er da, der Schattengreifer. Vor meinen Eltern. Er warnte uns vor den herannahenden Hohepriestern und ihren Wachen und sprach ebenfalls ununterbrochenauf meine Mutter ein. So lange, bis sie bereit war, mich ihm mitzugeben. Ich weinte und schrie. Auf keinen Fall wollte ich von meiner Familie getrennt werden! Lieber wollte ich mit ihnen in den Tod gehen, als auch nur für einen Augenblick von ihrer Seite zu weichen. Doch meine Mutter nahm mich fest in den Arm und vertraute dann mein Leben dem Schattengreifer an. Und eben wie bei dir, Basrar, hatte er auch mich vor die Stadttore gebracht und mich dort meines Schattens beraubt.«
Heiße Tränen rannen ihr über das Gesicht, und Simon hätte sich gern neben sie gesetzt, um ihr tröstend einen Arm um die Schultern zu legen. Er zögerte jedoch noch und wusste nicht, ob er es wagen konnte.
Da begann Salomon mit leiser Stimme, seine Geschichte zu erzählen: »Vor dem Stadttor – dort nahm er sich auch meinen Schatten und mein Leben«, sagte der bisher so schweigsame Junge. »Es war zur Zeit der großen Pest in Europa«, fügte er hinzu und Simon zuckte zusammen. Es war befremdlich, jemandem gegenüberzusitzen, der diese schreckliche Zeit selbst miterlebt hatte. Simon fürchtete sich ein wenig vor dem, was er nun vermutlich zu hören bekommen würde.
»Überall im Land fand das große Sterben statt«, setzte Salomon seine Erzählung fort. »Wir nannten es den Schwarzen Tod, weil sich die Stellen am Körper der Menschen schwarz verfärbten, an denen die Pest ihre Haut faulen ließ.
Er machte vor niemandem halt, der Schwarze Tod. Er war unbarmherzig und gnadenlos. Niemand war vor ihm sicher. Kinder nicht und auch keine Erwachsenen. Es war gleich, von welchem Stand du warst oder welcher Gesinnung. Die Pest nahm fast jeden mit sich, dem sie sich näherte. Bettler ebenso wie Edelleute, Diebe ebenso wie Wachposten. Der SchwarzeTod nahm sich Ritter und fahrendes Volk, Herren und Diener, Bauern und Kaufleute. Alle, alle wurden hingerafft von dieser heimtückischen Krankheit.«
Salomon saß im Schneidersitz vor dem Feuer und redete und redete. So schrecklich das war, was er zu erzählen hatte: Es schien ihm doch gutzutun, all die Bilder in seinem Kopf endlich einmal mit anderen teilen zu können.
»Es gab kein Entrinnen«, fuhr er mit seiner monotonen Stimme fort. »Es war gleich, ob du in der Stadt lebtest oder auf dem Land, in einer Burg oder in einem Haus. Der Schwarze Tod fand dich an jedem Ort.
Es begann mit den Ratten. Sie brachten die Krankheit in die Städte. Erst starben die Tiere, dann die Menschen. Die Ärzte waren machtlos und die Leute wurden panisch. Das Ende der Welt schien nahe. Und es brauchte jemanden, der an alledem schuld war.«
»Daran schuld war?«, fragte Neferti verwundert. »Wie meinst du das?«
»Die Menschen brauchten einen Sündenbock. Jemanden, den sie dafür verantwortlich machen konnten, was mit ihnen geschah.«
»Das ist absurd.«
»Ja, Neferti. Absurd. Aber leider auch menschlich.«
»Fand man denn einen Sündenbock?«, fragte Nin-Si und sah ihn an. Sie schien zu ahnen, was nun folgen würde.
Salomon blickte in die Flammen. »Oh ja, den fand man. Und es war nicht allzu schwierig, glaubt mir. Man nahm einfach den, der schon seit Jahrhunderten immer wieder für alles verantwortlich gemacht wurde, wenn in der Welt etwas aus den Angeln geriet. Die Menschen lenkten ihren Hass auf jene,die schon seit ewigen Zeiten ihren Kopf hinhalten mussten: die Juden.«
»Was? Du meinst …«
»Genau. Schon immer wurde mein Volk für Dinge zur Verantwortung gezogen, für die es nichts konnte. Schon immer war man dem Volk der Juden gegenüber misstrauisch. Dabei sollen doch wir das erwählte Volk sein.« Er seufzte. »Bald schon machte man Jagd auf uns. Mit der Ausrottung der Juden sollte auch die Pest ausgerottet werden. Es gab eine regelrechte Hatz auf uns. Kein Jude war mehr sicher. Nicht vor der Pest und nicht vor dem Mob.
Der Schattengreifer erschien, als es für meine Familie gefährlich wurde. Er versprach meinen Eltern, mich zu retten und mit sich zu nehmen. Und nun bin ich hier, auf dem Seelensammler. Das ist meine Geschichte.«
»Schrecklich!« Neferti schüttelte sich.
»Und wie sich unsere Geschichten gleichen …«, gab Basrar zu bedenken.
Die beiden wandten sich Moon zu, der mit dieser Reaktion schon gerechnet hatte: »Nun wollt ihr gewiss auch von meinem Schicksal hören, nicht wahr?«, fragte
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