Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
gesamte Feldheer im Osten ist. Was würde dann geschehen?«
Der Imperator sah Marcellus ins Gesicht.
Zwischen seinen Augenbrauen war überdeutlich eine tiefe, senkrechte Doppelfalte zu sehen, und er wirkte müde, als ob ihn etwas seit Langem Nacht für Nacht bis in den Schlaf quälen würde. Er senkte seine Stimme wieder: »Ich verstehe. Was geschehen würde? Sie würden sicherlich versuchen, auf Rom zu marschieren, wie es Theudebert schon einmal getan hatte. Aber diesmal wäre Rom ja nicht schutzlos, die ganze VI. Legion, die Hispania Felix, bleibt schließlich in Italien, und bei ihr sind fünftausend westgotische auxiliarii. Und zusätzlich verbleiben zwei Kohorten Prätorianer in Rom.«
Marcellus fuhr sich mit der Hand durch die grauen Haare. »Wäre es denn nicht möglich, noch mehr Truppen in Italien zurückzulassen? Nur eine Legion mehr, die VIII. vielleicht?«
»Völlig unmöglich. Du weißt, Onkel, dass unsere Armee klein ist, klein sein muss. Konstantin der Große hatte ein Feldheer von dreihunderttausend Mann, dagegen wirken unsere sechzigtausend kümmerlich. Aber wir dürfen nicht den Fehler wiederholen, uns mit gewaltigen Armeen zu übernehmen. Das Heer, das ich nach Armenien bringe, ist schon jetzt bedenklich klein, und du hast gehört, wie groß Hormuzans Streitmacht ist.«
Rufus machte eine Pause und betrachtete seinen Onkel, in dessen Gesicht sich ohnmächtige Hilflosigkeit zu spiegeln schien. Dann fuhr er fort. »Aber ich sehe, dass es dir ernst ist mit deinen Befürchtungen. Auch, wenn ich selber nicht glaube, dass die Frankengefahr tatsächlich besteht, weiß ich dein Pflichtgefühl zu schätzen. Onkel Marcellus, ich vertraue niemandem mehr als dir. Während meiner Abwesenheit wird Krista die Regierung übernehmen. Sie ist intelligent und stark, aber du hast Erfahrung. Ich möchte dich bitten, ihr zur Seite zu stehen und ihr mit deinem Rat die schwere Aufgabe zu erleichtern. Wirst du mir diesen Gefallen erweisen?«
Der Präfekt antwortete sofort, ohne auch nur den Bruchteil eines Pulsschlages zu zögern: »Ja, das werde ich. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Durch das Fenster fielen die ersten honiggelben Strahlen der Morgensonne, die langsam hinter dem Häusermeer Roms aufstieg. Sie trafen auf die gegenüberliegende Wand des Raumes und tauchten das Fresko der Fortuna auf der Weltkugel in einen warmen Lichtkegel.
5
Trevera
Im »Roten Drachen«
Andreas Sigurdius hatte keine gute Nacht verbracht. Der Schlaf hatte ihm keine Erholung verschafft, und in aller Frühe war er vor Kälte aufgewacht. In Rom mochten die Nächte im ausgehenden April noch frisch sein, doch hier waren sie geradezu eisig, und als er sich widerwillig dazu überwunden hatte, sich am Brunnen im Innenhof der Herberge zu waschen, fand er Mauern und Brennholzstapel mit Raureif bedeckt, eine dünne Eisschicht schwamm auf der Wasseroberfläche. Mit zusammengebissenen Zähnen warf er sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht und dankte Gott, dass er für seine Reise einige Tage mit etwas milderen Nächten erwischt hatte. Danach hatte er sich rasiert und die schmerzhafte Erfahrung machen müssen, dass das Eiswasser dazu wenig geeignet war, weil es die Haut spröde werden ließ und das Rasiermesser dadurch schon beim Ansetzen Wunden schlug.
Nun saß er in der Gaststube alleine am Tisch und löffelte lustlos eine Schüssel dampfend heißen Haferbrei. Wehmütig dachte er an das feine, weiche Brot, das auf dem pannonischen Landgut seiner Familie jeden Morgen frisch gebacken wurde, als Beowulf in den Raum kam. Er trug bereits den Reisemantel, wirkte missgelaunt und nahm mit einem gemurmelten Gruß gegenüber Andreas Platz.
»Manchmal verfluche ich diese Franken. Wie kommen die nur auf die Idee, eine so wichtige Straße zu sperren? Ihr habt es gut, Ihr müsst keiner festen Route folgen. Ich hingegen bin gezwungen, wegen einer Laune dieses verdammten Mönches einen zeitraubenden Umweg zu nehmen.«
»Von welchem Mönch sprecht Ihr?«, fragte Andreas. Ihm war nicht klar, warum Beowulf die Sperrung der Straße einem Geistlichen anlasten wollte.
»Na, von Einhard. Sagt bloß, Ihr habt noch nie von ihm gehört?«
Andreas dachte nach. Dann erinnerte er sich, den Namen in Marcellus’ Dokumenten gelesen zu haben, in denen einige Male Einhard als Inhaber des Amtes des Oberkämmerers erwähnt wurde, ohne dass seine Funktion dabei näher definiert worden wäre. Der Titel war Andreas völlig unbekannt, und er
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