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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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Fragen mehr. Paul kehrte auf demselben Wege zurück, auf dem er gekommen war. Er verließ den Hof und sah weiter vorne die torkelnden Zechbrüder soeben nach links in die Spruce Street einbiegen. Er folgte ihnen, bog jedoch an der nächsten Kreuzung wieder von der Spruce Street ab und eilte auf anderen Wegen zum Friedhof voraus.
     
    Als er dort eintraf, war der Friedhof noch leer. Gegen halb sechs erschien ein erster Besucher, eine ältere Dame, mit einem Eimer voller Blumen. Pauls Geduld wurde auf eine schwere Probe gestellt. Erst um Viertel vor sechs erschienen die beiden Trunkenbolde im Haupteingang. Für eine Strecke, die ein normaler Fußgänger bequem in zwölf bis fünfzehn Minuten zurücklegen konnte, hatten sie eine Dreiviertelstunde gebraucht. Sie kümmerten sich nicht um die alte Dame – ebensowenig wie die alte Dame, nach einem mißtrauischen Seitenblick, sich um sie kümmerte –, sondern kamen den Hauptweg entlanggewalzt, der in den Hintergrund des Friedhofs, zu den jüngeren Gräbern führte. Paul folgte ihnen auf einem Kurs, der parallel zu dem ihren verlief. Hinter einem Birkengestrüpp fand er schließlich Deckung, in deren Schutz er sich näher an die beiden Freunde heranarbeiten konnte.
    Giulio und Elmer waren stehengeblieben.
    »Wi-wie hast du dir das eigentlich vorgestellt?« sprudelte Giulio hervor. »Keine Blu-lumen, kein garnix …, womit willst du die Gräber schmü-mücken? Heh?«
    Elmer kicherte betrunken.
    »Da … hick … müss’n wir uns ehm was einfallen lass’n.«
    Er sah sich um und verlor bei der Bewegung um ein Haar das Gleichgewicht. Inzwischen hatte Paul begonnen, die Pistole zu polieren. Nachdem er sicher war, daß keiner seiner Fingerabdrücke sich mehr auf der Waffe befand, packte er sie mit Hilfe seines Taschentuchs und schob einen Zipfel des Tuchs so über den Abzug, daß er auch beim Abdrücken das Metall nicht direkt zu berühren brauchte.
    Inzwischen hatte der wankende Elmer S. Danbury an der Schulter seines Freundes Halt gefunden. Er lachte lauthals. Paul richtete sich auf. Seine Hand zitterte ein wenig, als der Lauf der Waffe ihr Ziel suchte. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. In wenigen Sekunden würde Elmer S. Danbury nicht mehr leben. Zum ersten Mal empfand er so etwas wie Furcht vor dem Zeitparadoxon. Würde er sich doch, aller Zuversicht zum Trotz, in dem Augenblick in Nichts auflösen, in dem Elmer Danbury starb. Giulio mußte die Bewegung hinter dem Birkengebüsch wahrgenommen haben. Er sah auf. Ein ungläubiger, staunender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er die Gestalt des Fremden gewahrte. In diesem Augenblick drückte Paul ab. Peitschend löste sich der Schuß. Auf Elmer Danburys Stirn erschien ein dunkles Mal. Er begann von neuem zu wanken. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, brachte jedoch keinen Laut hervor. Dann brach er zusammen. Reglos lag er zu Füßen seines Freundes Giulio auf dem taufeuchten Rasen.
     
    Mit dem Taschentuch packte Paul die Pistole beim Lauf. Nur für den Bruchteil einer Sekunde kam ihm zu Bewußtsein, daß ihm selbst nichts geschehen war, daß er das Zeitparadoxon vollbracht hatte, ohne sich selbst zu schaden. Er brach durch das Birkengestrüpp. Giulio Zavecchi stand da wie eine Statue, die Augen vor Schreck geweitet, den Mund zum Schrei geöffnet.
    »Da, nimm!« fuhr Paul ihn an und drückte ihm die Pistole in die rechte Hand.
    Giulio griff zu, nicht wissend, was er tat. Paul stürmte davon, bis er außer Sichtweite war. Dann verfiel er in den gemächlichen Schritt eines Spaziergängers. Ungesehen erreichte er die rückwärtige Begrenzung des Friedhofs. Er sah sich um und schwang sich ohne Mühe über den niedrigen Zaun. Minuten später war er auf dem Weg nach Highland Park. Die Stadt hinter ihm blieb merkwürdig ruhig. Kaum vorstellbar, daß sich vor wenigen Minuten auf dem Friedhof ein Mord ereignet hatte. Er erwartete, die Sirenen der Polizeifahrzeuge von allen Richtungen her auf den Friedhof zukreischen zu hören. Aber nichts dergleichen geschah. Es blieb still.
    Gegen sieben Uhr erreichte Paul Danbury am Hang des Lookout Mountain das Gebüsch, in dem er vor zwei Tagen seine Zeitmaschine versteckt hatte. Sie war unversehrt. Er öffnete die Tür und kletterte ins Innere. Hier erst gönnte er sich Zeit, die Ereignisse der letzten anderthalb Stunden noch einmal zu überdenken. Er hatte seinen Großvater also getötet. Er hatte dafür gesorgt, daß sein Vater, George S. Danbury, niemals zur Welt

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