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Die Zeitwanderer

Die Zeitwanderer

Titel: Die Zeitwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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verabschiedete, konnte durch die Wandverkleidung gedämpfte Stimmen vernehmen. Cosimo und Sir Henry waren in einer langen Unterhaltung vertieft, die mit den folgenden Worten begonnen hatte: »Würdest du uns entschuldigen, Kit? Sir Henry und ich haben etwas Privates zu besprechen. Lauf bitte nicht fort. Es dauert bestimmt nicht länger als einen Augenblick. Dann rufen wir dich.« Doch sie stritten sich immer noch, dass die Fetzen flogen, und ein Ende war nicht in Sicht. Es langweilte Kit, im Vorraum herumzusitzen, und er hatte die Nase voll davon, die Äste in den Holzdielen zu zählen. Und so beschloss er, sich die Beine zu vertreten.
    Er hatte die Absicht, zurück zu sein, bevor jemand sein Verschwinden bemerken würde, und daher schlich er auf Zehenspitzen den Korridor entlang. Hinten entdeckte er eine Treppe, die zu einer Außentür führte. Es war ein wolkenverhangener Tag, der wohl Regen bringen würde; und so nahm sich Kit einen der dicken Wollmäntel von Sir Henry, die an einem Türhaken hingen. Er schlüpfte nach draußen und ließ Clarimond House - ein stattliches, hohes Steingebäude - hinter sich, nur um ein wenig frische Luft in seine Lungen zu bekommen und sich mit einem weiteren Blick auf das alte London zu belohnen.
    Nachdem er sich durch das hintere Gartentor hinausgedrückt hatte, ging er an einer Reihe von Stallungen entlang, bis er die Musgrave Road erreichte. Erneut überfiel ihn mit voller Wucht der unfassbare, rätselhafte Anblick eines Ortes, der zugleich vollkommen fremd und auf unheimliche Weise vertraut war. Es war fast, als würde man jemanden, dessen Leben man zuvor aufgrund von Tagebucheinträgen studiert hatte, zum ersten Mal persönlich treffen. Oder vielleicht so, als würde man einem Freund im frühen Kindesalter begegnen, der einem bisher nur als Erwachsener vertraut war. Es ist wie ein zweiter erster Eindruck, fuhr es Kit durch den Kopf. So vieles war wiedererkennbar und unverändert, so vieles ganz anders als gewohnt.
    Er spazierte weiter die Straße hinunter und kam an noch unbeschädigten und im ursprünglichen Zustand befindlichen Fachwerkbauten vorbei, die noch nicht unter dem Zahn der Zeit und unter Umbaumaßnahmen gelitten hatten. Aber sie waren auch weniger begehrenswert, da es sich offenkundig um Wohnungen für das gemeine Volk handelte und nicht um kostbare Immobilienschätze, die den Schutzbestimmungen für historische Bauwerke unterstanden. Nirgendwo gab es hier Blumenampeln, Gedenktafeln für verstorbene Geistesgrößen oder an Bordsteinkanten geparkte BMWs - ja noch nicht einmal Bordsteinkanten. Diese Gebäude wiesen vielmehr schmutzige kleine Fenster, schäbigen Verputz, verschimmelte Strohdächer und rußgeschwärzte Kaminaufsätze auf. Lange Reihen solcher Häuser verliehen der Szenerie ein merkwürdiges einfarbiges Erscheinungsbild: Kit hatte das Gefühl, als wäre er in eine Schwarzweißfotografie hineingetreten. Die Straßen waren entweder grob gepflastert, oder sie stellten, was häufiger der Fall war, nur unbefestigte Wege mit Spurrillen dar. Zudem war jeder Verkehrsweg, soweit Kit es sehen konnte, mit Pferde- und Rinderkot verdreckt. Auf ihren Wegen zu und von den Nutztiermärkten der Stadt trieben Bauern ihre Kühe, Schweine, Schafe, Gänse und Hühner durch die Nebenstraßen. Es gab kaum Bäume oder andere Pflanzen; das wenige sichtbare Grün war auf kleine Flecke abseits der Wege begrenzt, wo weder Füße hintraten noch das Vieh graste.
    Einen feineren, aber nicht weniger tief greifenden Unterschied bemerkte Kit erst, als er die Straße weiter entlangspazierte - die veränderte Klanglandschaft. Sein erster Gedanke war, dass etwas mit seinem Gehör nicht stimmte. Doch er litt nicht unter einer plötzlichen Schwerhörigkeit. Das gelegentliche Bellen eines Hundes, das Gewieher eines Pferdes, das rostige Ächzen des Eisentores, als er es öffnete, die Stimme eines etwas weiter entfernten Straßenverkäufers, der lautstark seine Waren anpries - all das und vieles mehr konnte Kit ohne Schwierigkeiten hören. Doch die Stadt schien gedämpft zu sein, als ob sich ein Schleier über die Welt gelegt hätte, der alle Geräusche abschirmte.
    Kits Spaziergang erwies sich bald als extrem anstrengend für seinen Verstand und seine Sinne. Das kontinuierliche Beachten und Einordnen von unzähligen Verschiedenheiten erschöpfte ihn. Da er eine derartige mentale Überlastung nicht gewohnt war, wurde er es bald leid, durch die Stadt zu streifen, und er machte sich auf den

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