Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
Mühlpfordt trägt die Leopardenmuster-Handtasche ihrer Bekanntschaft. Immer wieder schaut sich Beate Zschäpe um und macht auf ihre Begleitung den Eindruck, verfolgt zu werden. Sie wirkt innerlich aufgewühlt, verängstigt, eingeschüchtert und verbreitet Unruhe. Gegen 17:30 Uhr verabschieden sich die beiden Frauen voneinander, nachdem Petra Mühlpfordt Zschäpe bis zu einer etwas versteckt liegenden Bank in der Bahnhofshalle des Hauptbahnhofs begleitet hat.
Die nächsten Stunden verbringt Beate Zschäpe vermutlich verunsichert in der Bahnhofsvorhalle. Draußen fällt die Temperatur auf 6 Grad Celsius. Im Inneren des Bahnhofs verströmen die Lampen eines Chinaimbisses, der Geruch der Fleischerei und die Geräusche der «Burger King»-Filiale nicht nur Wärme, sondern auch das Gefühl, nicht allein sein zu müssen. Pendler wuseln umher, Menschen strömen von den Bahnsteigen zum Ausgang.
Gegen halb neun setzt sie sich wieder auf eine Bank und kramt mehrfach Faltblätter mit den Zugverbindungen «Braunschweig–Halle» und «Halle–Dresden» aus ihrer Handtasche und betrachtet sie. Der Zeuge Ralf Schneider erinnert sich, dass sie nervös war, zitterte und sich des Öfteren nach allen Seiten umsah. «Mir fiel auf, dass sie eine sehr schmutzige linke Hand hatte, und später sah ich auch, dass die rechte Hand sehr verschmutzt war.» Außerdem fielen ihm ihre ungepflegten roten Schuhe auf.
Es wird immer kälter und langsam auch dunkel. Zschäpe muss sich jetzt entscheiden, wie es weitergeht. Aus Mangel an Alternativen wählt sie die Option der letzten Tage: Nach einer halben Stunde steht sie auf und läuft in Richtung der Bahngleise 1, 2 und 3. Wieder besteigt sie einen Zug, wieder will sie die Nacht in einem warmen Bahnabteil verbringen. Das nächste Ziel: Dresden. Kurz nach Mitternacht erreicht sie den Hauptbahnhof.
Der vierte Tag auf der Flucht ist vorüber. Bis jetzt konnte sie die Polizei noch abschütteln.
Irgendwann in diesen letzten Stunden in Freiheit muss Beate Zschäpe klargeworden sein, dass sie nicht mehr vor ihrem bisherigen Leben davonlaufen kann. Scheinbar ziellos war sie vier Tage durch Deutschland gefahren. Ihre einzige Verbindung zu der Zeit im Untergrund war ihre BahnCard 25, die auf den Namen «Mandy S.» ausgestellt war. In dieser Nacht vom 7. auf den 8. November 2011 fällt sie einen Entschluss: Sie will sich selbst unbedingt noch einen letzten Wunsch erfüllen.
Von Dresden geht die Fahrt weiter nach Thüringen. Ihre letzte Reise führt auch sie zurück in ihre Heimatstadt, nach Jena. An den Ort, wo ihre toten Lebensgefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bereits seit drei Tagen auf Metallbetten der Gerichtsmedizin liegen. Am Morgen des 8. November will sie noch einmal ihre Oma sehen. Vom Paradies-Bahnhof fährt Beate Zschäpe dafür nach Jena-Nord.
Hier stehen zehngeschossige Hochhäuser des DDR-Neubautyps P2, in die verdiente Carl-Zeiss-Mitarbeiter seit 1968 einziehen durften – fließend Warmwasser und Wärme aus der Fernheizung inklusive. Es sind gerade einmal vier Neubauten, zu wenig für ein Neubaugebiet. Die Gegend ist kein Hochhausghetto, wie die Zeitungen schreiben. In der Umgebung stehen viele Einfamilienhäuser, solide Mittelklasse statt Hartz-IV-Gebiet. Beate Zschäpe will zu ihrer Oma.
«Immer wenn sie den Namen Beate hörte in den vergangenen Jahren, kamen ihr die Tränen», erinnert sich eine Freundin der Großmutter, die seit der Fertigstellung des Hauses im zweiten Stock lebt. Niemand rechnete mehr damit, dass die Enkeltochter irgendwann noch einmal auftauchen würde.
Sogar ihre eigene Mutter vermutet, dass Beate gar nicht mehr am Leben ist. «Beate war ein liebevolles, freundliches und hilfsbereites Mädchen. Ich kann nicht glauben, was über sie geschrieben wird», sagt die Nachbarin, die sich nur im Guten an die Zeit erinnert, als Zschäpe noch öfter zu Gast bei der Oma war.
Ein goldenes Namensschild am holzfarbenen Furnier der Eingangstür führt den Nachnamen der Großmutter. Vor der Wohnungstür liegt ein brauner Fußabtreter im kahlen, kalten Treppenhaus.
Seit fast 14 Jahren war Beate Zschäpe nicht mehr hier, hatte keinen Kontakt mehr zu ihrer Oma. Einmal noch will sie sie sehen. Aus unbekannten Gründen kommt es nicht zu einem Treffen. Später erzählt Zschäpe ihrem Anwalt, dass sie am Morgen ihres letzten Tages in Freiheit schon vor dem Hochhaus stand. Sie hat auch noch einmal versucht, die Großmutter anzurufen an diesem Morgen. Später wird sie
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